Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 273

Realizing Utopia
Einsichten und Perspektiven 4 | 13
273
11 Eine Internet-Plattform, auf der man bei Menschen in der ganzen Welt einen kostenlosen Schlafplatz auf der Couch o. Ä. anfragen kann.
Landeszentrale:
Raphael, du lebst seit fast vier Jahren
ohne Geld. Wie kam es dazu?
Raphael Fellmer:
Ich war schon immer recht sparsam
und habe Rücksicht genommen auf die Ressourcen. Mir
war aber nicht bewusst, wie ich durch mein Verhalten auf
anderen Teilen der Erde für Ungerechtigkeit, Hunger und
Leid sorge. Es war ein zwei Jahrzehnte langer Prozess,
dass ich versucht habe zu begreifen, warum tagtäglich so
viele Menschen an Hunger sterben und wir hier so viele
Lebensmittel wegwerfen. Wirklich zu verstehen, was ich
selbst damit zu tun habe und wie ich auch auf anderen
Ebenen für Leid sorge, das hat sich in den letzten vier bis
fünf Jahren entwickelt. Ich bin nach meinem Studium in
Holland mit Freunden und meiner jetzigen Frau ohne
Geld nach Mexiko gereist. Auf meiner Reise habe ich ge-
lernt, dass es zwar keine große Kunst ist, Kapital anzu-
häufen, dass aber dadurch immer entweder die Natur,
Menschen oder Tiere leiden. Daher kam der Entschluss,
in den Geldstreik zu gehen. Seit meiner Rückkehr von der
Reise leben meine Frau, meine Tochter und ich in einem
Friedenszentrum in Berlin, in dem wir uns im Büro und
Garten engagieren und dafür dort kostenlos wohnen kön-
nen.
Landeszentrale:
Sollen wir am besten alle ohne Geld le-
ben? Wie stellst du dir so ein Leben und so eine Gesell-
schaft vor?
Fellmer:
Nein, das erwarte ich gar nicht. Es geht mir dar-
um, mehr Bewusstsein zu schaffen. Wege aufzuzeigen,
wie wir nachhaltiger, ökologischer und sozialer leben
können. Eine entscheidende Rolle dabei spielt der Kon-
sum. Ich will versuchen, dass mehr Menschen das in einen
Kontext bringen. Man muss nicht diesen radikalen Schritt
gehen und völlig ohne Geld leben. Aber jeder Kauf, jedes
Essen ist eine Wahl. Das Wichtigste ist, dass wir bewuss-
ter einkaufen, essen und konsumieren. Und dass wir uns
auch fragen, wenn ich zum Beispiel ein Smartphone kau-
fe, welche Ressourcen verbraucht werden oder wer aus-
gebeutet wird. Ich will bewirken, dass man einfach inne-
hält, bevor man in diesen Konsumrausch gerät. Es liegen
so viele Dinge ungebraucht auf dem Speicher, in den Kel-
lern ... Was wollen wir denn noch Neues?
Landeszentrale:
Führst du ein glücklicheres Leben als
vor deinem Geldstreik?
Fellmer:
Ich bin sehr viel dankbarer und erfüllter in mei-
nem Leben, weil ich viele Dinge bewusster tue . Das mo-
netäre System kann so nicht weiterexistieren. Es ist also ei-
gentlich nur eine Frage, ob wir uns aus einer Freiwilligkeit
heraus dazu entscheiden, mit weniger Geld – und damit
meine ich auch Konsum und Besitz im Allgemeinen –
glücklicher zu sein, oder ob es irgendwann durch einen
Crash passieren wird. Ich würde mich freuen, in den
Nachrichten zu hören, dass wir es geschafft haben, unsere
Wirtschaftsleistung um sechs Prozent zu schrumpfen. Da-
mit wir das akzeptieren, muss noch ein Paradigmenwech-
sel stattfinden, und wir alle können dazu etwas beitragen.
Landeszentrale:
Aber wenn niemand mehr etwas kon-
sumiert und für etwas bezahlt – wer stellt dann noch et-
was her? Wer räumt zum Beispiel den Müll weg?
Fellmer:
Ich glaube, dass wir in Zukunft anderen Men-
schen nicht mehr Berufe „aufdonnern“ sollten, die wir sel-
ber gar nicht machen möchten. Was ist denn Müll letzt-
endlich? Er ist Produkt unserer Wegwerfkultur. Vieles da-
von sind unnachhaltige Produkte. Aber vieles kann auch
wiederverwendet werden. Ich könnte mir vorstellen, dass
jeder seinen eigenen Müll zu Sammelstellen bringt. Da-
durch dass man sich selbst kümmern muss, würde der
Müll bereits stark reduziert. Dort kann sich dann jeder be-
dienen, und Dinge können wiederverwendet werden. So
muss wieder weniger produziert werden. Genauso wie es
zum Beispiel 50 Millionen Fahrzeuge in Deutschland gibt.
Wir brauchen keine neuen Fahrzeuge. Wir müssen erstmal
80 bis 90 Prozent der Autos von den Straßen holen. Und
dann müssen wir es noch schaffen, Maschinen und Gerä-
te mit nachhaltiger Energie zu füttern, und sie auch mit er-
neuerbaren Energien herstellen, aber vor allem generell
mehr auf bereits extrahierte Ressourcen zurückgreifen.
Landeszentrale:
Meinst du, dass du diese Gesellschaft,
die du beschreibst, noch miterlebst?
Fellmer:
Ich bin schon Teil dieser Gesellschaft, und du
und ganz viele andere. Es passiert ganz viel unentgeltlich
und auf freiwilliger Basis, wie zum Beispiel Couchsur-
fing
11
oder Umsonstläden, weil es den Leuten Freude be-
reitet. Ich bin mir sicher, dass wir das alle erleben werden,
weil wir diese neue Kultur des Schenkens und Empfan-
gens aktiv mitgestalten. Ich sehe das als eine Realität, die
wir gerade schaffen.
Landeszentrale:
Würdest du Foodsharing mehr als eine
Initiative oder gesellschaftliche Bewegung sehen?
Fellmer:
Die Lebensmittelverschwendung ist etwa 80 bis
90 Prozent der Menschen zuwider. In hochindustriali-
sierten Regionen wie Europa ist sie auch teilweise verant-
wortlich für Hunger in anderen Teilen der Welt, und ich
glaube, dabei fühlt sich niemand wohl. Die Abneigung ge-
gen Lebensmittelverschwendung ist daher etwas, was al-
le verbindet. Ich sehe es als eine sehr gute Grundlage an,
Menschen zusammenzuführen, die ganz unterschiedliche
209...,263,264,265,266,267,268,269,270,271,272 274,275,276,277,278,279,280,281,282,283,...284
Powered by FlippingBook