Table of Contents Table of Contents
Previous Page  19 / 76 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 19 / 76 Next Page
Page Background

19

Der Russische Revolutionszyklus 1905–1932

Einsichten und Perspektiven 2 | 17

Universitäten zu ihnen kommenden jungen Menschen für

„Wirrköpfe“, deren politische Anliegen sie nicht verstan-

den und die sie deshalb als Fremde ausgrenzten. Oftmals

sahen die Bauern in den agrarsozialistischen Romantikern

sogar aufwieglerische Störenfriede und lieferten sie darum

bei der zarischen Polizei ab, die sodann die Unruhestif-

ter nach Sibirien verbannte. Vera Figner, die damals als

Ärztin und Hebamme auf das Dorf gezogen war, fühlte

sich bald „einsam, schwach und energielos in diesem

Bauernmeer“.

56

Auch ihr blieb die bittere Enttäuschung

nicht erspart, dass die umworbenen Bauern mit einer

politischen Revolution noch nichts am Hut hatten. Ein

anderer Aktivist schrieb daher voller Frustration: „Der

Sozialismus prallte von den Menschen ab wie Erbsen von

einer Wand.“ 

57

Die Intellektuellen und Revolutionäre, die

sich selbst dazu ermächtigt hatten, die Rolle des Anwalts

des einfachen Volkes zu spielen, um die Bauern aus Unbil-

dung und Unfreiheit herauszuführen, scheiterten an der

zur damaligen Zeit noch kaum überbrückbaren kulturel-

len Kluft, die sich durch die russische Gesellschaft zog.

58

Auf noch größere Probleme als die sozialistischen

Kräfte trafen die Liberalen bei ihrem Versuch, sich mit

ihrem Programm bei den Bauern Gehör zu verschaffen. In

den

Zemstva

arbeiteten die bäuerlichen Vertreter zwar mit

den Repräsentanten des liberalen Landadels zusammen.

Die Dorfbewohner wussten mitunter neue kulturelle In­

stitutionen wie Gerichte, Schulen, Krankenhäuser, Agrar-

gesellschaften und Genossenschaften für sich zu nutzen,

die dank des verstärkten Engagements liberal gesinnter

Bildungsschichten entstanden waren und an Bedeutung

gewannen. Auch wenn sie vorsichtig aufeinander zugin-

gen, trennten die bürgerliche Elite und die Bauernschaft

weiterhin Welten. Oftmals konnten sich die Gebildeten

nicht ihres Überlegenheitsdünkels entledigen und traten

zu gern dem Landvolk gegenüber als Lehrmeister auf.

59

Die Dorfbewohner hingegen sahen in den sich um ihre

Traditionen und ihr Wohlergehen sorgenden Stadtmen-

56 Zit. n. Nolte (wie Anm. 34), S. 162. Zu Vera Figner vgl. ausführlich Stephan

Rindlisbacher: Leben für die Sache. Vera Figner, Vera Zasulič und das radi-

kale Milieu im späten Zarenreich, Wiesbaden 2014; Lynne Ann Hartnett:

The Defiant Life of Vera Figner. Surviving the Russian Revolution. Bloo-

mington 2014.

57 Zit. n. Berlin (wie Anm. 55), S. 307.

58 Beyrau/Hildermeier (wie Anm. 30), S. 155–166; Daniel Field: Peasants and

Propagandists in the Russian Movement to the People in 1874, London

1992; Cathy A. Frierson: Peasant Icons. Representations of Rural People in

Late 19th Century Russia, Oxford 1993, S. 38–47.

59 So Yanni Kotsonis: Making Peasant Backward. Agricultural Cooperatives

and the Agrarian Question in Russia, 1861–1914, Basingstoke 1999.

schen weiterhin Fremde, denen sie nur bedingt Vertrauen

entgegenbrachten. Während es den armen Bauern umBrot

und die Sicherung minimaler Lebensbedürfnisse ging, for-

derten die liberalen Akademiker, Fabrikanten und Adlige

politische Mitsprache und Machtteilhabe am Staatsge-

schehen. Der Unmut an der zarischen Autokratie und der

noch ausstehenden durchgreifenden Emanzipation der

Sozialbeziehungen speiste sich demnach aus unterschied-

lichen Quellen; die Ziele des einerseits sozialen, anderer-

seits politischen Aufbegehrens waren grundverschieden.

Verstanden die Bildungsschichten unter Freiheit vor allem

eine durch eine Verfassungsreform garantierte Meinungs-

vielfalt und politische Partizipationsrechte, drängten die

Bauern vor allem auf eine umfassende Landreform, um

dadurch die Befreiung von Unterdrückung und Not zu

erreichen. Diese jeweiligen Agenden ließen sich nicht so

ohne weiteres in Übereinstimmung bringen; die Ambi-

valenz der Interessen erwies sich kaum organisierbar. Das

erschwerte es erheblich, dass zwischen den Gebildeten

und den Bauern über die gemeinsame Gegnerschaft gegen

das Zarenregime hinaus eine belastbare Allianz entstand.

Fürst Georgij L’vov (1861–1925), einer der führenden

russischen Liberalen, bekannte in den 1890er Jahren ehr-

lich, die reformorientierten Eliten wüssten „soviel über

das Gebiet von Tula wie über Zentralafrika.“ 

60

60 Figes (wie Anm. 46), S. 63.

Fürst Georgij L’vov war Anführer der Liberalen im Reich und wurde 1917

Ministerpräsident. Im Bild die provisorische russische Regierung im März 1917.

L’vov ist Zweiter von links; Zweiter von rechts: Aleksandr F. Kerenskij.

Foto: ullstein bild/Archiv Gerstenberg