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„Ich bin in einem doppelten Schweigen aufgewachsen“

Einsichten und Perspektiven 3 | 17

nichts so Gutes. Ich hatte geheiratet, um aus Franken

wegzukommen. Der Vater meines Mannes war ein alter

Nazi, und sie haben versucht, die „kleine Russin“ umzu-

erziehen. Diese schreckliche Ehe und danach der große

Zusammenbruch - auch das alles hat sich in Bayern ab-

gespielt. Erst mit Wolfgang Hilbig habe ich 1987 Bayern

verlassen, wir lebten sechs Jahre im rheinland-pfälzischen

Edenkoben, wo wir uns fühlten wie im Urlaub auf Le-

benszeit. Wäre nicht die deutsche Einheit dazwischen ge-

kommen, wären wir da geblieben, und alles wäre anderes

gekommen. Die deutsche Einheit war für mich persön-

lich das Ende für viel Gutes und viel Schlechtes.

LZ:

Ist heute Berlin also der einzige Ort, an dem Sie wohnen

können?

Natascha Wodin:

Vielleicht schon. Berlin war in der

Nachwendezeit absolut mein Ort. Ich bin nach Berlin

gekommen und habe zwar geheult, weil ich wusste, ich

habe mein Paradies in Edenkoben verloren. Aber gleich-

zeitig wusste ich, an diesem Berlin komme ich nicht vor-

bei. Berlin war die Ost-West-Achse und ist es auch heute

noch. Als ich kurz nach der Wende hierher gezogen bin,

das war die schönste Zeit meines Lebens. Das beschreibe

ich ja in den „Nachtgeschwistern“.

Ich habe hier wieder russische Freunde, spreche jeden Tag

russisch und insofern hat sich ein Kreis geschlossen. Al-

lerdings bin ich inzwischen etwas stadtmüde und würde

gerne rausziehen in die Natur.

LZ: Wolfgang Hilbig hat angeblich gesagt, er habe den

Westen überhaupt nicht vertragen. Konnten Sie da nicht

ein bisschen „dolmetschen“?

Natascha Wodin:

Stimmt. Ich war ja eigentlich östlicher

als er, aber für ihn war ich „die Wessi“ – ist das nicht

grotesk? War ich in Moskau, war ich die Deutsche, in

Bayern die Russin, bei Wolfgang Hilbig war ich die West-

deutsche.

LZ:

Was steht für Sie für den Westen?

Natascha Wodin:

Für Wolfgang Hilbig waren die West-

menschen die „Übermenschen“. Er trug einen schweren

Ostkomplex mit sich herum. Und er war nicht der einzige

Ostdeutsche, dem das so ging. Ich glaube, das ist etwas,

was die meisten Westdeutschen nicht verstehen.

LZ:

Kann man heute überhaupt noch dezidiert von West-

und Ostdeutschen sprechen? Meistens geht es hier doch

nur um Stereotypen.

Natascha Wodin:

Kann sein, dass das für heutige junge

Generationen gar kein Begriff mehr ist. Aber Menschen,

die in der DDR groß geworden sind, sind natürlich auch

heute noch geprägt von dem damaligen Leben. Diese Prä-

gungen wird man ja nie los.

LZ:

Wie wäre denn dann der richtige Umgang miteinander?

Natascha Wodin:

Ich glaube, das braucht einfach immer

noch Zeit. Man wollte, dass die Deutschen über Nacht

wieder ein Volk werden. Das hat nicht funktioniert und

Wolfgang Hilbig, u.a. Bachmann- und Georg-Büchner-Preisträger, Köln 2002

Foto: Teutopress/ sz-photo