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Einsichten und Perspektiven 4 | 17
Umgehend nach seiner von mehreren tausend Arbei-
tern und Soldaten bejubelten Ankunft in Petrograd veröf-
fentlichte Lenin seine „Aprilthesen“. Sie riefen mit ihrem
revolutionären Maximalismus zum vorbehaltlosen Kampf
gegen die Provisorische Regierung auf. Deren Scheitern,
so Lenins Prognose, würde die einmalige Chance bieten,
dass der bürgerlichen Februarrevolution schon bald eine
sozialistische Revolution folgen könnte. Dieser Sichtweise
schloss sich die große Mehrheit der linken Revolutio-
näre damals jedoch nicht an. Als darum im Juni der 1.
Allrussische Kongress der Arbeiter- und Soldatendepu-
tierten zusammentrat und die Abgeordneten aus allen
Landesteilen nach Petrograd reisten, stellten die Bolsche-
wiki nur 105 der insgesamt 822 Teilnehmer und fanden
mit ihren radikalen Forderungen nur selten Gehör.
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Ungeachtet ihrer Minderheitenposition setzten sich die
Bolschewiki als die angeblich eifrigsten Verteidiger der
48 Altrichter (wie Anm. 26), S. 166-170; Service (wie Anm. 45), S. 347-369;
Figes (wie Anm. 23) , S. 410-422; Gerd Koenen: Die Farbe Rot. Ursprünge
und Geschichte des Kommunismus, München 2017, S. 714-725 u. 736 f.
Arbeiterklasse jedoch unermüdlich in Szene. Je schlechter
es um die Provisorische Regierung und die sie tragenden
moderaten Kräfte stand, desto mehr Zulauf erhielten die
Anhänger Lenins. Im Oktober 1917 hatte die Partei der
Bolschewiki schon mehr als 200.000 Mitglieder und damit
bereits fast so viele wie die Menschewiki. Nur die Partei der
Sozialrevolutionäre war mit 700.000 Mitgliedern in der
Armee und auf dem Land sowie zusätzlich 300.000 Mit-
gliedern in den Städten noch deutlich größer. Allerdings
waren die Sozialrevolutionäre als Massenpartei deutlich
schlechter organisiert als die schlagkräftige Kaderpartei der
Bolschewiki. Dank straffer Führung und geschickter Tak-
tik gelang es den Bolschewiki, ihre Machtposition in den
Arbeiter- und Soldatenräten allmählich auszubauen.
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Der Aufstieg der Bolschewiki als radikale Oppositions-
partei geriet allerdings Anfang Juli ins Stocken. Als die Sol-
daten eines Maschinengewehr-Bataillons der Petrograder
Garnison gegen ihre Verlegung an die Front Widerstand
leisteten, scheiterte ein auch innerparteilich umstrittener
Aufstandsversuch kläglich. Lenin musste in den Wirren
dieser Juli-Krise nach Finnland fliehen. Leo Trotzkij, der
seit seiner Rückkehr aus den USA im Mai 1917 an der
Seite Lenin kämpfte, saß nach seiner Verhaftung sogar
einen Monat im Gefängnis.
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Als im Sommer die Wirtschaftskrise und damit die
Verelendung ungebremst voranschritten, kamen die Bol-
schewiki jedoch schnell wieder in die Erfolgsspur. Bei den
Wahlen zum Petrograder Stadtparlament erhielten sie am
20. August einen Stimmenanteil von 33 Prozent.
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Nach
den bescheidenen Wahlergebnissen zuvor war das eine
politische Sensation. Dieser Erfolg speiste sich keines-
wegs aus einem revolutionären Bewusstsein der Massen.
Die meisten wussten nicht, was Lenin unter Sozialismus
verstand und was seine Revolutionstheorie bedeutete. Der
Zulauf der Bolschewiki speiste sich vor allem aus der all-
gemeinen Unzufriedenheit und dem wachsenden Wunsch
der Bevölkerung nach durchgreifenden Lösungen. Es war
die Schwäche der anderen Parteien, die maßgeblich zur
Stärkung der Bolschewiki führte.
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49 Bonwetsch (wie Anm. 22), S. 159 ff.; Smith (wie Anm. 13), S. 39 f.
50 Eine genaue Beschreibung dieser Juli-Krise gibt Alexander Rabinowitch:
Prelude to Revolution. The Petrograd Bolsheviks and the July 1917 Upri-
sing, Bloomington 1968. Zuletzt auch Figes (wie Anm. 23), S. 446-464;
McMeekin (wie Anm. 26), S. 166-183; Aust (wie Anm. 8), S. 125 ff.
51 Hildermeier (wie Anm. 37), S. 29 f.; Pipes (wie Anm. 45), Bd. 2, S. 222.
52 Alexander Rabinowitch: The Bolsheviks Come to Power. The Revolution of
1917 in Petrograd, Chicago
2
2009, S. 83-93; Baberowski/Kindler/Teich-
mann (wie Anm. 36), S. 17 f.
Die Zeitschrift „Der Wahre Jakob“ titelte am 7. Dezember 1917 mit dem
Machtkampf zwischen Lenin und Kerenskij.
Bild: picture alliance/akg
Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932 Teil 3