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„Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“ – reloaded

Einsichten und Perspektiven 4 | 16

Mittels multipler Mediatoranalysen

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konnte diese Annahme

geprüft werden. Die Ergebnisse sind in Abbildung 3 sehr

stark vereinfacht und ohne Angaben der statistischen

Kennziffern dargestellt.

19

Die jeweils grau und gestrichelt

gezeichneten Pfeile zeigen die direkten Einflusspfade ohne

Berücksichtigung der jeweiligen Mediatoren. Die schwarz

gezeichneten Pfeile verweisen auf Pfade, wenn die Media-

toren berücksichtigt werden.

Wie lässt sich diese Abbildung lesen? Zunächst ein-

mal verdeutlichen die Ergebnisse, dass die Einflüsse der

Prädiktoren (also der Variablen auf der linken Seite der

Abbildung) in signifikanter Weise über die Identifikation

als Musliminnen und Muslime („Identifikation mit der

Gemeinschaft der Muslime“ als Mediator) vermittelt wer-

den. Der stärkste Einfluss geht von der Religiosität über

die Identifikation mit der Gemeinschaft der Muslime auf

islamistisch-fundamentalistische Überzeugungen aus. Die

Befunde zeigen auch, dass die direkten Effekte der Prädik-

toren „gruppenbezogene Diskriminierung“, „Respekt vor

familiären Sitten“, „Religiosität“ und „autoritäre Überzeu-

gungen“ auf „islamistisch-fundamentalistische Überzeu-

gungen“ nach Einführung des Mediators („Identifikation

mit der Gemeinschaft der Muslime“) zwar größtenteils

signifikant bleiben, sich jedoch deutlich verringern (des-

halb grau und gestrichelt gezeichnet).

Außerdem verweisen die Ergebnisse darauf, dass die

islamistisch-fundamentalistischen Überzeugungen nega-

tive Emotionen gegenüber „dem Westen“ und Vorurteile

gegenüber den „Deutschen“ und „demWesten“ beeinflus-

sen. Über diesen Weg (schwarze Pfeile) können derartige

Überzeugungen auch die Akzeptanz von ideologisch

begründeter Gruppengewalt befördern.

Für fundamentalistische und radikalisierte Musliminnen

und Muslime zählt vor allem die (konstruierte) Identität

als „wahre“ Musliminnen und Muslime. Gerade im sehr

strengen Werte- und Normensystem des fundamentalisti-

schen Islams liegt demnach seine Attraktivität. Durch das

ausschließliche Bekenntnis hierzu wird scheinbar eine Last

von den jeweiligen Individuen genommen: Man weiß wie-

der sicher, wer man ist und was von einem erwartet wird.

Zugleich wird man Teil eines Kollektivs, in dem strenge

18 Mediatoren sind vermittelnde Bedingungen zwischen den möglichen Ur-

sachen und den vermuteten Wirkungen. Prädiktoren sind vorhersagende

Bedingungen oder mögliche Ursachen – in empirischen Untersuchungen

auch unabhängige Variablen genannt – mit denen Wirkungen (abhängige

Variablen) erklärt werden.

19 Frindte/Ben Slama/Dietrich/Pisoiu/Uhlmann/Kausch: Wege in die Gewalt.

Motivationen und Karrieren salafistischer Dschihadisten, HSFK-Report

1/2016.

Werte und Normen starke Gefühle von Homogenität und

Geborgenheit erzeugen. Darüber hinaus ist islamistischer

Fundamentalismus als eine gewaltbereite Ideologie zu

betrachten, welche zur Grundlage von Vorurteilen, negati-

ven Gefühlen und Gewaltbereitschaft gegenüber all jenen

werden kann, die diese Ideologie nicht befürworten.

Aber auch hier gilt: Fundamentalismus ist nicht gleich

Fundamentalismus. In unseren Studien zeigen sich zumin-

dest drei (statistische) Gruppierungen: Eine Gruppe von

Muslimen (42,8 Prozent der Gesamtstichprobe) ohne

ausgeprägte fundamentalistische Neigung und ohne poli-

tische Gewaltbereitschaft; weiterhin eine Gruppierung

(etwa 28,6 Prozent), in der wiederum ca. 20 fundamen-

talistische Überzeugungen äußern; und zuletzt eine Grup-

pierung (ebenfalls 28,6 Prozent der Gesamtstichprobe), in

der ca. die Hälfte der jungen Muslime starke fundamenta-

listische Überzeugungen, Vorurteile gegenüber Deutsch-

land und dem Westen und Hass und Wut auf den Westen

äußern.

Fazit

Es gibt keinen Grund, die Religiosität der Muslime per

se als problematisch anzusehen. Um einem islamistischen

Fundamentalismus vorzubeugen, sind allerdings gesell-

schaftliche Initiativen notwendig, die den Aufbau einer

positiven bikulturellen Identität erleichtern und einer kul-

tureller Entwurzelung entgegenwirken. Eine Demokratie

muss deshalb soziale Räume schaffen, um den Muslimen

sowohl eine Identifikation mit der deutschen Aufnah-

mekultur zu ermöglichen, als auch weiterhin eine posi-

tive Bindung an deren Herkunftskultur und Religion zu

gewährleisten.

Und die Muslime in Deutschland müssen deutlich

machen, dass sie die europäischen Werte der Aufklärung

im Allgemeinen und die politisch-rechtlichen Grundwerte

im Besonderen nicht nur akzeptieren, sondern auch mit-

gestalten wollen. Integration ist also ein wechselseitiger

Prozess, der nur bei gemeinsamem Engagement sowohl

der Migranten als auch der deutschen Mehrheitsbevölke-

rung gelingen kann. Dabei sollten sich sowohl die Mus-

lime als auch die „Mehrheitsgesellschaft“ nicht von Popu-

listen „vor sich hertreiben lassen“, die wechselseitig ein

negatives Zerrbild der jeweils anderen Gruppe vermitteln.

In Zeiten von Pegida und AfD keine ganz einfache Auf-

gabe.