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aviso 1 | 2014
DER ZAHN DER ZEIT
RESULTATE
gegnung mit Heine selbst zum Dichter wurde, so wie die un-
glückliche Charlotte von Kalb in der Korrespondenz mit Jean
Paul zur Dichterin wurde. Robert Schumann also erfand für
Heines komplexe Komposition aus Überschwang und Witz,
Sentiment und Zynismus das Wort »Dichterliebe«. Es wurde
Schlüsselbegriff und Titel meines letzten Romans.
Interpretiert werden die drei Lieder »Das ist ein Flöten und
Geigen«, »Aus alten Märchen winkt es« und »Die alten bö-
sen Lieder« von – am Flügel – Sun Hee Lee und dem Sänger
Claes-Håkan Ahnsjö, was mich ungemein freut, und dazu
möchte ich eine andere Geschichte erzählen.
Claes H. Ahnsjö
habe ich vor 35 Jahren an der Bayeri-
schen Staatsoper getroffen. Ich hospitierte als junge Studentin
bei einer Inszenierung von »Eugen Onegin«, er sang den
Lenskij. Persönlichen Kontakt hatten wir nicht. Seine Mit-
wirkung bei den Proben war professionell makellos, ansons-
ten hielt er sich abseits; bis eines Tages – bis eines Tages
unser Regisseur die Souffleuse beschimpfte.
Es war eine explosive Probensituation gewesen, und die Span-
nung entlud sich über dieser jungen Frau, die gelegentlich zu
laut anschlug, ansonsten aber am allerwenigsten dafür konnte.
Ich beobachtete das Geschehen vom Zuschauerraum aus. Die
Souffleuse saß auf einem Stühlchen an einem kleinen Tisch
etwas unter Bühnenniveau auf dem hochgefahrenen Orches-
tergraben. Auf einmal rannte der Regisseur auf sie zu und
brüllte auf sie nieder, in meiner Erinnerung minutenlang; ich
sah im Scheinwerferlicht eine Wolke Speichel auf ihr dünnes
rotes Haar regnen, während ihr Kopf zwischen den Schultern
versank. Plötzlich ging Claes Ahnsjö dazwischen; er als ein-
ziger ergriff ihre Partei. Er erschien aus dem linken Abseits,
in dem er sich auch diesmal gehalten hatte, rief mit seiner
hohen Stimme ein paar Sätze des Protests, deren Wortlaut
ich vergessen habe, und lief nach rechts hinaus, den Klavier-
auszug unterm Arm; kehrte nochmal zurück, küsste, wozu
er niederknien musste, die Souffleuse auf den geschändeten
Scheitel und stürzte hinaus. Als der Inspizient ihn ausrief,
meldete der Pförtner, Herr Ahnsjö habe das Haus verlassen.
Kurz darauf kam eine Krankschreibung für drei Tage wegen
Herzbeschwerden.
So etwas entspricht
im Bühnenkodex etwa der Fah-
nenflucht beimMilitär, und der Regisseur verlangte die sofor-
tige Umbesetzung. Weil aber das ganze Ensemble für Ahnsjö –
nicht für den mitleidigen Mann, sondern für den erstklassi-
gen Sänger – bat und der Regisseur selbst ein starker Künst-
ler und kein Schurke war, probte man miteinander weiter. Es
wurde eine unvergessliche Aufführung und Claes Ahnsjö der
vornehmste, innigste Lenskij, den ich je gehört habe.
Für mich war es eine entscheidende Lehre: Man soll nicht nur,
man kann auch genau das tun: als Zeuge solcher Entgleisun-
gen zu Lasten der Schwachen – sie gehen immer zu Lasten
der Schwachen – die Stimme erheben und gegebenenfalls
die Bühne verlassen, nachdem man die Souffleuse auf den
Scheitel geküsst hat; und wenn es einen den Job kostet, ist
das der geringere Schaden. Im Prinzip weiß das jeder. Dass es
aber durchaus nicht zwangsläufig den Job kostet, sondern die
Dinge zum Guten wenden kann, das glaubt man erst, wenn
man es erlebt hat. Ich habe versucht, Claes Ahnsjö zu folgen,
und wenn ich zögerte, habe ich an ihn gedacht.
In diesem Frühjahr
traf ich ihn zufällig wieder. Inzwi-
schen hatte er weitere drei Jahrzehnte auf drei Kontinenten
gesungen, doch an diese Episode erinnerte er sich sofort. Als
ich ihm dankte, lachte er verlegen und sagte mit seiner noch
genauso hellen Stimme und seinem putzigen schwedischen
Akzent: »Ja … denn sie konnte sich nicht wehren.«
Das Jean-Paul-Wort dazu, angemessen kurz: »Die Tat ist die
Zunge des Herzens.«
IV.
In Jean Pauls Namen erlebe ich also einen märchenhaft
paradoxen Abend.
Ich danke meinen Lesern, dass es mich gibt, und den nicht
lesenden Steuerzahlern unter Ihnen für die Budgetierung des
Preises. Ich danke für kompetente Betreuung den Mitarbei-
terinnen des Knaus Verlags und besonders meinem Verleger
Wolfgang Ferchl, dem ich seit circa zehn Jahren durchweg
Verluste beschere. Möge Jean Paul für mich sprechen: »Ein
bloßer Durchgang durch denMusentempel ist verboten. Man
darf nicht den Parnaß passieren, um in ein fettes Tal zu laufen.«
Den Juroren danke ich für die glückhafte Zwangsbegegnung
mit Jean Paul.
Ich danke Martin
Mosebach. Dass dieser einschüchternd
gebildete, imWortsinn unheimlich gescheite, exquisite Künst-
ler hierher gekommen ist, um für mich zu sprechen, »bewegt«
mich, mit Jean Paul zu sprechen, »wie Erdstöße«. Ich fühle
mich ein bisschen wie Ahnsjös Souffleuse, die ebenfalls nicht
wusste, wie ihr geschah.
V.
Das Schlusswort soll Jean Paul gehören, diesmal mit einem
flüchtigenWiderspruch: »Die Menschen sind auf ihremWege
ohne Ziel, und der Zufall, die Not und die Begierde drängen
sie an eines, und das nehmen sie für ihres: Goldstücke und
Ehrenmedaillen ziehen denMenschen am längsten im Leben
nieder, und so stirbt der äußere, ohne dass der innere je flog.«
Mir, der heute
Goldstücke und Ehre zuteil werden, sei
erlaubt zu bemerken: Sie ziehen mich gerade überhaupt nicht
nieder. Es ist auf, ich weiß, sehr kurzen Flügeln ein herrlich
froher Flug.
Die Schriftstellerin
Petra Morsbach
wurde im Oktober 2013 mit
dem Jean Paul Preis des Freistaats Bayern ausgezeichnet.