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aviso 1 | 2014
DER ZAHN DER ZEIT
RESULTATE
Auf kurzen Flügeln
ein herrlich froher Flug
Dankrede zum Jean Paul Preis
Text:
Petra Morsbach
Für mich ist
das ein Abend der Überraschungen. Die erste
ist, dass ich hier stehe; denn ich war nicht sicher, ob ich einen
nach Jean Paul benannten Preis verdient habe. Dann fügte
sich alles so paradox apart, wie es demNamensgeber gebührt.
I.
In Studententagen habe ich ihn glücklos zu lesen versucht; ich
kapitulierte vor den ausschweifenden Improvisationen, Asso-
ziationen, Vorreden und Exkursen, den qualligen Fußnoten,
den langen Perioden, der gewaltigen Lexik und selbstverges-
senen Artistik. Von der »Vorschule der Poetik« schaffte ich
circa zehn Seiten und war so betäubt von dem hyperaktiven
Gequassel, dass ich nicht unter Folter die These hätte wie-
dergeben können. Offenbar ist sie von der Ästhetik nicht zu
trennen, doch zwingt das Dauer-Allegretto zu flotter Lektüre,
und ich musste einsehen, dass ich nicht so schnell denken
kann wie Jean Paul schreibt.
Ohne den Preis
hätte ich ihn kaum mehr gelesen. Doch
so versuchte ich es, mit einem gewissen Lustgrusel. Günter
de Bruyns erleuchtetes Jean-Paul-Buch brachte mich auf die
Spur. Und ich muss wenig übertreiben, um zu sagen: Schon
dafür hat sich der Preis gelohnt. Hinter den Girlanden stößt
man auf einen hinreißenden Künstler. Wie unbekümmert, wie
subversiv gescheit brachte er die Dinge auf den Punkt, und
auf welch unverwechselbare Weise! Wo immer ich hinkam –
ob als Leserin, ob als Autorin –, war er schon gewesen – als
Autor wie als Figur, und zu allem sagte er herrliche Dinge.
Fünf Wege.
Erstens: die Wortschöpfungen undMetaphern. »Angsthase«,
»Ehehälfte«, »Gänsefüßchen«, »Schmutzfink« oder »Welt-
schmerz« (zum Beispiel) sind in die deutsche Umgangsspra-
che eingegangen. Warum? Sie sind bildhaft, frisch, humorvoll,
dabei keineswegs nur Erfindungen gutgelaunter Jugend.
Bis ins Alter verfügte dieser Autor über eine mühelose Bild-
und Benennungskraft. Noch in seinem letzten Roman »Der
Komet« steht etwa die umwerfende Metapher, dass »einfa-
che Tongesänge« den Kandidaten Richter aus Hof »wie Erd-
stöße« bewegten.
Zweitens: die Sätze.
»An den Mauern flogen Schatten,
die niemand warf, und andere Schatten gingen aufrecht in
der bloßen Luft.« Nur Alltagswörter diesmal, aber in einer
fantastisch ausdrucksstarken Kombination. Ich glaube nicht,
dass jemand in diesem Saal außer Martin Mosebach solche
Sätze bilden könnte.
Drittens: die Aphorismen, auf die man immer wieder stößt,
auch an unerwarteten Stellen. Im Zusammenhang mit unse-
rem bayerischen Hypo-Alpe-Adria-Skandal zitierte etwa die
»Süddeutsche Zeitung« ein Bonmot des legendären Bank
direktors Hermann Joseph Abs: Es sei leichter, eine einge-
seifte Sau am Schwanz zu packen, als einen Aufsichtsrat zur
Verantwortung zu ziehen. Genial für einen Banker, dachte ich,
bis ich in den »Flegeljahren« die mutmaßliche Originalfas-
sung las: »einem rechten Juristen komme der Teufel selber
nicht bei, und er wolle ebensogut ein Ferkel am eingeseiften
Schwanz festhalten als einen Advokaten am jus«.
Viertens: die Poesie.
In der »Rede des toten Christus
vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei« träumt einer
eine Nacht auf dem Gottesacker: Christus sinkt herab und
beklagt vor den Leichen seine vergebliche Suche nach Gott
in den »Wüsten des Himmels«. Als sich die »Riesenschlange
der Ewigkeit« um Welt und Natur zusammenzieht, um sie
zu zermalmen, erwacht der Erzähler aus seinem Alptraum.
»Meine Seele weinte vor Freude, dass sie wieder Gott anbe-
ten konnte – und die Freude und das Weinen und der Glaube
an ihn waren das Gebet. Und als ich aufstand, glimmte die
Sonne tief hinter den vollen purpurnen Kornähren […] und
zwischen dem Himmel und der Erde streckte eine frohe ver-
gängliche Welt ihre kurzen Flügel aus und lebte, wie ich, vor
dem unendlichen Vater; und von der ganzen Natur ummich
flossen friedliche Töne aus, wie von fernen Abendglocken.«
Eine theologische Fantasie, deren eigentliche Frage offen
bleibt: Gibt es IHN, gibt es ihn nicht? Es gibt ihn, weil wir
ihn imaginieren und anbeten (können) und weil Gebet Trost
bedeutet; mehr ist nicht drin, doch auch nicht weniger. Die
vergängliche Welt ist »froh« – klar, wäre sie nicht vergäng-
lich, wozu müsste sie froh sein? Ihre Begrenztheit klingt
an: in den »kurzen« Flügeln (warum kurz? und, falls nicht
geflogen werden soll: warum Flügel?). Vor allem aber in den
Abendglocken, die sogar in den »Tönen der ganzen Natur«
von Neige künden. Eine hinreißende Dialektik: Geboten wird
dem Leser Erlösung, obwohl nichts geklärt ist. Es ist Zaube-
rei – eine lautere, nicht eine der Täuschung, weil sie keine
Ungewissheit unterschlägt.
©
Susanne Geier | Wolfgang Maria Weber