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Iran: Der ganz normale Gottesstaat
Einsichten und Perspektiven 2 | 15
gelöst. Seither ist es ruhiger geworden in der „Islamischen
Republik“, doch die Unzufriedenheit mit der politischen
Realität in der Bevölkerung ist in der Zwischenzeit nicht
verschwunden – und stellt für das Regime kritisches Poten-
tial für die Zukunft dar. Wenige Wochen nach der Wahl
Rouhanis im Sommer 2013 waren in der iranischen Bevöl-
kerung noch gemischte Gefühle festzustellen: Immerhin 43
Prozent erwarteten, dass ihre Situation sich in den nächs-
ten vier Jahren durch seine Legislatur verbessern würde. 
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Neben der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wurden ins-
besondere innere Reformanliegen als wichtigste politische
Aufgaben angegeben: Ausbau der Demokratie, Schutz der
persönlichen und bürgerlichen Rechte, Stärkung der Frau-
enrechte. Sollte der Präsident die ursprünglichen Hoffnun-
gen zumindest auf sanfte Liberalisierung nach innen weiter
enttäuschen, könnte es gut sein, dass Teherans Straßen wie-
der im grünen Fahnenmeer versinken. Im Moment jedoch
scheint das Land eine nur allzu verständliche Revolutions-
müdigkeit erfasst zu haben, die sich auch darin äußert, dass
sich die Regimegegner, die nicht zielstrebig an ihrer Emig-
ration feilen, zunehmend ins Private zurückziehen.
Alltag im „Gottesstaat“: Iranische Kaffeeszenerie unter den Blicken der
Ayatollahs
Eigentlich ist Iran ein Land mit zwei Gesichtern; beide
sind wahrhaftig, doch nur eines darf offen gezeigt und
von außen betrachtet werden, das zweite – zumal ehrli-
chere – ist privat. 
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Hinter iranischen Gardinen leben die
Menschen eine Vielfalt an möglichen Lebensentwürfen.
So unterschiedlich die Realitäten für jedermann sicht-
bar für einen armen Bootsbauer auf der Insel Qeshm im
Persischen Golf, einen Touristenführer durch das antike
Persepolis bei Shiraz, einen Koranschüler im konservati-
ven Rechtszentrum Qom oder für eine Familie im westi-
ranischen Kurdistan sein mögen, so unterschiedlich sehen
sie auch innerhalb der Teheraner Wohnungen aus: Es
wird gelacht und geweint, gebetet und gefastet, gegessen
und getrunken, über Gott und die Welt diskutiert oder
geschwiegen. Religiosität und politische Überzeugung
sind Skalen, die von ganz unten bis ganz oben, respektive
von erzkonservativ bis liberal, in der iranischen Gesell-
schaft bedient werden, auch wenn die studentische Akti-
vistin respektive die unterdrückte Hausfrau das Bild der
Medien dominieren.
Wie ist es möglich, einem Land wie Iran gerecht zu
werden? Es nicht ausschließlich durch die Brille seiner
Außenpolitik
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und seines Verhaltens im Atomkonflikt
zu sehen, dürfte helfen, bei aller gebotenen Vorsicht mit
diversen Vorverurteilungen aufzuräumen. Ein Ruf, der
Iran und seinen Menschen vorauseilt, ist der der Gast-
freundlichkeit. Diesen zumindest haben die Iraner in vol-
ler Linie verdient. „Viele sind überrascht, wenn sie zum
ersten Mal in den Iran fliegen, dass es so eine freundliche
Kultur ist“, sagt die Künstlerin Samira Hodaei. „Und ja,
ich kann nur sagen: Wir sind ganz normale Menschen
da. Und wir haben die Gewalt nicht verdient.“ 
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62 Hier und im Folgenden: Zogby (wie Anm. 38), S. 3.
63 Unterhaltsame Lektüre zum Land hinter den Fassaden bietet an zahlrei­
chen Stellen die Neuerscheinung von Stephan Orth: Couchsurfing im Iran.
Meine Reise hinter verschlossene Türen, München/Berlin 2015.
64 Kritisiert werden insbesondere die Finanzierung der palästinensischen
Hamas und der libanesischen Hizbollah, der schiitischen Milizen im Irak
sowie die Unterstützung des syrischen Assad-Regimes. Interessant ist
aber, dass die Außenpolitik der iranischen Regierung eine Mehrheit der
Bevölkerung nur in punkto Jemen und Afghanistan hinter sich weiß. Zogby
(wie Anm. 38), S. 5.
65 Milz (wie Anm. 34).
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