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Islam in Deutschland
Einsichten und Perspektiven 2 | 15
Liberale Muslime oder säkular eingestellte Muslime sucht
man in den Reihen dieser Verbände eher vergebens; sie
sind oftmals gar nicht in eigenen Vereinigungen organi-
siert, weil ihre Vorstellungen zu individuell sind oder sie
andere Interessen als die Politik haben.
In einer weiteren Studie –
Islamisches Gemeindeleben in
Deutschland
– verweisen daher das Bundesamt für Mig-
ration und Flüchtlinge und das Essener Zentrum für
Türkeistudien und Integrationsforschung darauf, dass in
Ländern wie Berlin oder Nordrhein-Westfalen (die beson-
ders hohe muslimische Bevölkerungsanteile aufweisen)
nur gut die Hälfte der Gemeinden in den großen Dach-
verbände organisiert sind. 
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Ebenso ist nicht zwangsläufig
jede Muslima bzw. jeder Muslim auch ordentliches Mit-
glied in einem der lokalen Moschee- oder Kulturvereine,
wieThomas Lemmen bereits im Jahr 2002 ausführte, denn
die aktive Teilnahme an religiösen Ritualen und Festen,
setzt – anders als bei den Kirchen – keine Mitgliedschaft
voraus. 
7
So fallen etwa auch die aktuell in den Medien
omnipräsenten Salafisten und gewaltbereiten Dschihadis-
ten aus dem Raster der Verbands- und Vereinslandschaft
komplett heraus. Sie gruppieren sich um einzelne Prediger
und Führungspersönlichkeiten oder vernetzen sich über
das Internet. Über die traditionellen Vereine ist daher auch
eine Präventionsarbeit in diesem Bereich überaus schwie-
rig, weil selbst diese die radikalisierten Jugendlichen und
jungen Erwachsenen kaum erreichen.
Auch sektenähnlich aufgestellte muslimische Struk-
turen lassen sich nicht über die großen Dachverbände
erfassen. Bewegungen wie das Netzwerk um den türkisch-
islamischen Prediger Fethullah Gülen organisieren sich
bewusst abseits der traditionellen Verbände und verbreiten
ihre Ideen mit Hilfe von Bildungsaktivitäten und gemein-
samen Koranstudienkreisen eher abseits der öffentlichen
Aufmerksamkeit unter Anhängern und Interessierten.
Während sie nach außen hin oftmals modern und dialo-
gorientiert auftreten, finden sich in ihren Publikationen
auch Beispiele eines fundamentalistischeren Verständnis-
ses des Islams, wie die Festlegung der Rolle der Frau auf
Familie, Herd und Kinder, was sich auch in dem fehlen-
den weiblicher Führungskräfte in den Vereinen zeigt.
6 Dirk Halm/Martina Sauer/Jana Schmidt/Anja Stichs: Islamisches Gemein­
deleben in Deutschland. Forschungsbericht 13. Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge, Nürnberg, S. 39.
7 Thomas Lemmen: Islamische Vereine und Verbände in Deutschland.
Friedrich-Ebert-Stiftung: Gesprächskreis Migration und Integration, Bonn
2002, S. 28.
Bekanntheit der islamischen Verbände unter den in
einer Studie befragten Muslime (in Prozent)
ZMD IR D
İ
T
İ
B VIKZ KRM AABF
bekannt
26,6 16,1 43,8 25,1 9,6 26,8
nicht
bekannt
73,4 83,9 56,2 74,9 90,4 73,2
Quelle: Sonja Haug/Stephanie Müssig/Anja Stichs: Muslimisches Leben in
Deutschland, hg. v.d. Deutschen Islam Konferenz/Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge, Nürnberg 2009, S. 174; eigene Darstellung
Vereinheitlichungsbestrebungen der großen muslimi-
schen Verbände
Dieser großen Heterogenität und der eigentlich fehlen-
den Tradition einer zentralen Autorität zum Trotz gibt
es dennoch in der muslimischen Vereins- und Verbände-
landschaft Deutschlands aktuell Vereinheitlichungsbe-
strebungen. Dies ist auf den Umstand zurückzuführen,
dass der deutsche Staat für den Umgang mit religiösen
Angelegenheiten derzeit einen Rahmen bietet, wie er sich
im Umgang mit den christlichen Kirchen und ähnlich
strukturierten Glaubensgemeinschaften als praktikabel
erwiesen hat, wo man mit zentralen, institutionell gestell-
ten Ansprechpartnern arbeitet. Wollen die sunnitischen
und schiitischen Muslime in Deutschland also mittel- bis
langfristig in ähnlicher Weise wie der Zentralrat der Juden
in Deutschland, die
Ahmadiyya Muslim Jamaa
t oder die
Bahá’í-
Gemeinde in Deutschland über eigene Privilegien
verhandeln (z.B. einen eigenen Religionsunterricht) und
eine rechtliche Gleichstellung (z.B. den Körperschaftssta-
tus) erlangen, so bleibt ihnen nur die Suche nach einer
für sie akzeptablen Form einer zentralen Interessensver-
tretung.
Bedenkt man beschriebene Entstehungs- und Ent-
wicklungsgeschichte des Islam, so bedeutet dies, dass
dabei unterschiedlichste Überzeugungen unter einen Hut
gebracht werden müssen. Dies gilt nicht nur für zum Teil
divergierende religiöse Vorstellungen und Riten, sondern
ebenso für die Selbstverständnisse und Geschichtsbilder
unterschiedlicher Volksgruppen und Nationalitäten aus
der islamischen Welt. Die Gründung des Koordinierungs-
rats der Muslime in Deutschland (KRM) ist ein aktuel-
ler Versuch ein zentrales Gremium für alle Muslime in
Deutschland zu schaffen. Am Beispiel dieses Koordinie-
rungsrats soll daher nachstehend die Praktikabilität eines
solchen sozio-politisch favorisierten Ansatzes analysiert
werden.
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