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Einsichten und Perspektiven 3 | 17

len Erhebungen eine große Bedrohung für den Fortbe-

stand des Imperiums sah.

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Scheinkonstitutionalismus

Angesichts der nicht abebbenden Protestwelle musste

das Zarenregime 1905 um sein Überleben kämpfen. Die

enorme Zunahme politisch motivierter Gewalt verdeut-

lichte, dass sich allein mit polizeistaatlicher und militäri-

scher Repression die Lage nicht wieder dauerhaft in den

Griff kriegen ließ. Um den Unruhen den Schwung zu

nehmen, sah sich die Regierung gezwungen, partiell auf

die Forderungen der liberalen Opposition einzugehen.

Lange schwankte Nikolaj II., wie weit er mit seinen Zuge-

ständnissen den gesellschaftlichen Forderungen entgegen-

kommen wollte. Als aber im September 1905 ein weiterer

Generalstreik ausgerufen wurde und die Lage vollends zu

kippen drohte, ließ sich die Entscheidung nicht mehr auf-

schieben.

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Als Staatsmann von Format, der sowohl in Regierungs-

kreisen als auch in der liberalen Gesellschaft Ansehen

genoss, warnte der vormalige Finanzminister Sergej Witte

(1849-1915) am 9. Oktober Nikolaj II. in schonungslo-

ser Offenheit vor dem Schlimmsten: Der Untergang der

Monarchie stehe bevor, weil es längst zu einem „gestör-

ten Gleichgewicht“ zwischen Gesellschaft und dem beste-

henden autokratischen Regime gekommen sei. Russland

sei „über das bestehende System“ längst hinausgewach-

sen und benötige nun eine „auf bürgerlichen Freiheiten

begründete Ordnung“. Falls Nikolaj II. dazu nicht bereit

sei, bleibe nur die Alternative einer Militärdiktatur, auf die

das Zarenregime aber kaum vorbereitet und deren politi-

scher Ausgang daher völlig ungewiss sei.

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Am 17. Oktober hatte Nikolaj II. endlich ein Einsehen

und verkündete das von Witte ausgearbeitete sogenannte

Oktobermanifest. Das sah die Einführung eines Zweikam-

merparlaments vor, bestehend aus einem Staatsrat und der

neu zu bildenden Reichsduma, der eigentlichen Volksver-

tretung. Darüber hinaus gewährte das Oktobermanifest

bürgerliche Grundrechte, darunter Meinungs- und Ver-

sammlungsfreiheit. Das ermöglichte es, dass in der Folgezeit

im Zarenreich eine freie Presse entstand. In den über 500

Zeitungen fanden bald stürmische gesellschaftliche Diskus-

sionen statt. Zugleich durften sich Parteien, Gewerkschaf-

34 Zu den militärischen Strafaktionen vgl. Kusber (wie Anm. 12), S. 71-89.

35 Ascher (wie Anm. 14), S. 211-223.

36 Ebd., S. 224-226; Figes (wie Anm. 1), S. 205-208; Enticott (wie Anm. 13),

S. 37-50.

Diese restriktive Nationalitätenpolitik verstärkte die Spreng-

kraft sozialer und politischer Konflikte und setzte damit in

den Randgebieten besondere Eskalationsdynamiken frei.

Von den zwischen 1895 bis 1900 stattfindenden 59 großen

Straßendemonstrationen fanden lediglich drei in den rus-

sischen Kerngebieten statt, dagegen 25 in den polnischen

Westgebieten, jeweils neun in den Ostseeprovinzen und in

der Ukraine, sieben inWeißrussland und sechs in Finnland.

Auch die Bauernunruhen während der Zeit von 1902 bis

1904 erfassten im besonderen Maße ukrainische Gebiete

und im Kaukasus vor allem Georgien.

31

Zwar wurden 1905 nicht alle Regionen im gleichen

Maß von der Revolutionswelle erfasst; dennoch zeigten

die in Polen und im Baltikum besonders heftig toben-

den Unruhen, wie stark das Russische Imperium an sei-

nen Rändern schon zu brodeln und bröckeln begonnen

hatte. Die Wucht der Revolution resultierte hier daraus,

dass sich der nationale Impuls mit sozialen Forderungen

von Bauern und Arbeitern sowie mit den politischen For-

derungen der liberalen Intelligenz verband. Während der

beiden Jahre von 1905 und 1906 gab es allein in Polen

7000 Streiks, an denen 1,3 Mio. Arbeiter teilnahmen. In

Warschau geboten schließlich Armeeverbände mit Waf-

fengewalt dem bald bürgerkriegsähnlichen Treiben Ein-

halt.

32

Im Baltikum brannten die aufständischen Bauern

besonders viele Adelsgüter nieder.

33

Bei den darauffol-

genden Strafexpeditionen gingen die zarische Armee

und Geheimpolizei gnadenlos vor und töteten in den

Ostseeprovinzen 2000 Menschen. Weitere 600 wurden

anschließend in Gerichtsprozessen noch zum Tode verur-

teilt und tausende Andere zur Zwangsarbeit nach Sibirien

verbracht. Von allen nach 1905 im gesamten Russischen

Reich ausgesprochenen Todesurteilen entfielen 15 Pro-

zent auf das Baltikum und ein Viertel auf Polen. Diese

unverhältnismäßig hohe Zahl dokumentierte nicht nur

die revolutionären Energien in den Westgebieten, sondern

auch, dass die Petersburger Regierung in diesen nationa-

31 Kappeler (wie Anm. 23), S. 268.

32 Rolf (wie Anm. 27), S. 325-374; Christoph Gumb: Repräsentationen von

Herrschaft und die Präsenz der Gewalt, Warschau (1904-1906), in: Jörg

Baberowski/David Feest/Christoph Gumb (Hg.): Imperiale Herrschaft in

der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich,

Frankfurt am Main 2008, S. 271-302.

33 Zum Jahr 1905 im Baltikum vgl. Detlef Henning: Die Revolution von 1905

in den „Deutschen Ostseeprovinzen Russlands“, ihre Ursachen und Be-

deutung, in: Kusber/Frings (wie Anm. 15), S. 247-260; James D. White:

The 1905 Revolution in Russia’s Baltic Provinces, in: Jonathan D. Smele/

Anthony Heywood (Hg.): The Russian Revolution of 1905. Centenary Per-

spectives, London/New York 2005, S. 55-78.

Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932