Table of Contents Table of Contents
Previous Page  22 / 80 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 22 / 80 Next Page
Page Background

22

Einsichten und Perspektiven 3 | 17

Ganz im Gegenteil: Anlässlich der Krönungszeremonie von

Nikolaj II. 1896 schrieb die russische Zeitung Novoe Vremja

(Die Neue Zeit), die enorme Diversität der Kulturen und die

beeindruckende Vielfalt unterschiedlichster Ethnien stelle

einen besonderen Reichtum dar und sei die Quelle natio-

nalen und imperialen Stolzes.

24

Nachdem sich Russland in

seinem Expansionsprozess an seinen Rändern neue Gebiete

einverleibt hatte, kam es zu einer Kooperation mit den dorti-

gen Eliten, deren Angehörige sodann vielfach im Zarenstaat

Karriere machten. Die Petersburger Reichselite war daher

multiethnisch zusammengesetzt, dabei mit einem besonders

hohen Anteil der Baltendeutschen und anderer Deutsch-

stämmiger. Als nach 1864 die Expansion des Russischen

Imperiums nach Zentralasien begann, stieg beispielsweise

Konstantin von Kaufmann (1818-1882) zur zentralen Figur

auf und bestimmte bis 1882 die zarische Kolonialpolitik im

neu entstehenden Generalgouvernement Turkestan. Es wäre

demnach verfehlt, von den Russen als alles dominierendes

Reichsvolk zu sprechen.

25

Spätestens mit den „Großen Reformen“ der 1860er Jahre

war eine neue Dynamik in das Reichsgefüge gekommen.

Die nun verfolgte moderne Staatlichkeit erhob einen

weit intensiveren Herrschaftsanspruch. Die bürokrati-

sche Modernisierung ging mit Prozessen der Systematisie-

rung und Unifizierung einher. Das stellte die überlieferte

Ordnung des vormodernen Vielvölkerreichs mit ihren

besonderen Arrangements in Frage. Ferner diente stärker

als zuvor das Russische fortan als der Klebstoff, der das

Zarenreich in aller seiner soziokulturellen Unterschied-

lichkeit zusammenhalten sollte. Die Moderne und der

Fortschritt, das Imperiale und das Staatliche kamen nun

immer mehr in der Form des Russischen zum Ausdruck.

Während aber Petersburg auf die Festigung der Reichs-

einheit drängte, entstanden in den nichtrussischen Peri-

pherien erste Formen einer nationalen Identität. Die

wachsenden nichtrussischen Bildungsschichten began-

nen, sich ihre Traditionen bewusst zu machen und durch

die Identifizierung mit der eigenen Kultur sowie Sprache

ständeübergreifende Prozesse der Nationswerdung anzu-

stoßen. Als emotionale Bindekraft, die mittels geteilter

Wir-Gefühle politische Großkollektive schaffen konnte,

entfaltete der Nationalismus in der Zeit, in der sich die

24 Zit. n. Mark D. Steinberg: The Russian Revolution 1905-1921, Oxford

2017, S. 233.

25 Ulrich Hofmeister: Der Halbzar von Turkestan: Konstantin fon-Kaufman

in Turkestan, 1867-1882, in: Tim Buchen/Malte Rolf (Hg.): Eliten im Viel-

völkerreich: imperiale Biographien in Russland und Österreich-Ungarn

(1850-1918), München 2015, S. 65-89.

Agrar- in eine industrialisierte Massengesellschaft trans-

formierte, eine große Faszination. Er versprach, die neuen

gesellschaftlichen Selbstfindungs- und Orientierungsbe-

dürfnisse zu erfüllen. Mit seinen massenmotivierenden

Energien trug das Bekenntnis zur imaginierten Willens-

und Kulturgemeinschaft der Nation das Potenzial in sich,

an die Stelle des russisch dominierten Reichspatriotismus

zu treten. Das Imperiale und das Nationale gerieten damit

in einen politischen Wettbewerb.

26

Das Spannungsverhältnis zwischen modernem Empire

Building und Nation Building bestimmte vor allem die

politischen Entwicklungen in den westlichen Landes-

teilen. Nachdem Polen im Zuge von drei Teilungen zwi-

schen 1772 und 1795 seine Eigenständigkeit verloren hatte

und seine Territorien Preußen, dem Habsburger und dem

Zarenreich zugeschlagen worden waren, schloss die Peters-

burger Regierung 1815 die im Russischen Reich befindli-

chenTeilungsgebiete zum formal unabhängigen Königreich

Polen (auch „Kongresspolen“ genannt) zusammen. Trotz

dieser staatsrechtlichen Sonderstellung formierten sich im

polnischen Adel, in der Studentenschaft Warschaus und in

städtischen Bürgerkreisen schnell Gruppierungen, die sich

gegen die zarischen Autoritäten auflehnten. Die gärenden

Unruhen eskalierten 1863 schließlich in einem bewaffneten

Aufstand. Er wurde allerdings von russischen Verbänden

schnell niedergeschlagen, weil es den meist adlig-bürgerli-

chen Aufständischen nicht gelang, die polnischen Bauern

für die gemeinsame nationale Sache zu gewinnen.

27

Die sogenannte „polnische Meuterei“ schuf in Russland

das Bild von den untreuen Polen und provozierte harte

Gegenmaßnahmen. Die polnischen Gebiete wurden zu

einer einfachen Provinz, dem sogenannten Weichselland

zurückgestuft. Wichtige politische und administrative

Ämter übernahmen nun zugereiste nichtpolnische Beamte.

Zusammen mit der personellen Depolonisierung verfügte

die Petersburger Regierung, dass 1865 Russisch als Verwal-

tungssprache durchgesetzt und 1869 auch das polnische

Schul- und Universitätswesen russifiziert wurde.

28

Von einer repressiven Nationalitätenpolitik waren neben

den Polen vor allem Ukrainer und Weißrussen betroffen.

Die Petersburger Eliten nahmen Großrussland, Weißruss-

land und die als Kleinrussland bezeichnete Ukraine als eine

26 Dietmar Neutatz: Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im

20. Jahrhundert, München 2013, S. 42-49.

27 Malte Rolf: Imperiale Herrschaft im Weichselland. Das Königreich Polen im

Russischen Imperium (1864-1915), München 2015, S. 25-38; Dietrich Bey-

rau: Krieg und Revolution. Russische Erfahrungen, Paderborn 2017, S. 54-68.

28 Rolf (wie Anm. 27), S. 39-180; Beyrau (wie Anm. 27), S. 68-75.

Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932