17
Ein Länderporträt über Palästina
Einsichten und Perspektiven 4 | 16
In Rawabi wohnen zu können, muss man sich als Paläs-
tinenser also erst einmal leisten können: Das Investment
aus dem reichen Golfstaat Katar ist nicht als sozialer Woh-
nungsbau konzipiert, sondern entspricht mit seinen Res-
taurants und Cafés, der zentralen Plaza und dem 4D-Kino,
den Stores westlicher Kleidungsmarken, dem Lebensge-
fühl der höheren Mittelschicht. Doch die Interessenten an
einer Wohnung in Rawabi sind nicht repräsentativ für die
palästinensische Gesellschaft. Augenscheinlich wird die
verbreitete Armut in den Stadtteilen, die als Flüchtlings
lager
65
bezeichnet werden und mittlerweile zu eigenen
Städten gewachsen sind. So etwa in Balata bei Nablus,
dem größten Camp im Westjordanland:
66
Für 5.000
Menschen errichtet, leben dort mittlerweile 27.000. Pri-
vatsphäre kennen viele der Bewohner gar nicht: Oftmals
teilen sich mehrköpfige Familien einen winzigen Raum,
dessen Türe oder Vorhang in den heißen Sommern offen-
steht. Jeder, der sich durch die schmalen Gässchen windet,
kann Familien beim schlafen oder essen zuschauen – auch
die israelischen Sicherheitskräfte, die das Flüchtlingslager
regelmäßig durchsuchen, da es als Wiege der Radikalisie-
rung gilt. Das ist wenig verwunderlich: Die Infrastruktur
ist schwach ausgeprägt, die Arbeitslosigkeit – die Quote
für die Bevölkerung unter 25 Jahren liegt bei 60 Prozent –
ist enorm hoch, für Kinder gibt es kaum Plätze zum Spie-
len, für Jugendliche keinen Raum, in dem sie Freizeitbe-
schäftigungen nachgehen können.
Besonders problematisch ist die Situation auch in
einer anderen Stadt des Westjordanlandes, die ein bibli-
sches Erbe beherbergt: Etwa 200.000 Menschen leben in
Hebron, wo sich das Grab Abrahams befinden soll. Hier
konzentriert sich der ungelöste Konflikt auf ein greifbares
Gemisch aus Hass, Angst, Gewalt. Mitten in der palästi-
nensischen Stadt befinden sich israelische Siedlungen mit-
samt eigener Kindergärten und Schulen. Mehrere hundert
dieser Siedler gelten als militante und nationalreligiöse
Hardliner; immer wieder kommt es zu gewaltsamen Aus-
einandersetzungen zwischen arabischen und jüdischen
Bewohnern, die sich gegenseitig angreifen. Die Stadt ist
65 Im Westjordanland gibt es 19 Flüchtlingslager, in denen fast ein Vier-
tel der hier registrierten 775.000 Geflüchteten noch immer wohnt. Die
Flüchtlingslager sind kurz nach dem ersten arabisch-israelischen Krieg
von 1948 und in den darauffolgenden Jahren entstanden. Für die Belan-
ge der palästinensischen Flüchtlinge haben die Vereinten Nationen eine
eigene Stelle errichtet: Die
United Nations Relief and Works Agency for
Palestine Refugees in the Near East
(UNRWA). Nähere Informationen dazu
unter
http://www.unrwa.org/where-we-work[Stand: 14.11.2016].
66 Hier und im Folgenden vgl. den Bericht der UNRWA über das Balata
Camp:
http://www.unrwa.org/where-we-work/west-bank/balata-camp[Stand: 14.11.2016].
heute in zwei Zonen unterteilt: In Zone H2 im Osten,
wo die Siedlungen sich befinden, ist die Bewegungsfrei-
heit der dort lebenden Palästinenser stark eingeschränkt,
während die Siedler sich frei bewegen dürfen. Die Tei-
lung der Stadt hat auch dazu geführt, dass Palästinenser
die Ash-Shuhada, die Hauptdurchgangsstraße Hebrons,
nicht benutzen dürfen. Wer die Straße betreten möchte,
muss an einem Checkpoint israelischen Soldaten seinen
Ausweis zeigen. Das führt zu der absurden Situation, dass
Besucher aus Europa problemlos auf die Straße kommen,
während dies den meisten Bürgern der Stadt untersagt ist.
Auf der Straße selbst ähnelt Hebron einer Geisterstadt:
Auch die monatlichen Zahlungen der UN an die dort
ansässigen Ladenbesitzer, um den Betrieb aufrechtzuer-
halten, konnten nicht verhindern, dass viele der Geschäfte
aufgegeben haben. Die Wut auf die israelische Besatzung
ist hier besonders hoch: Die meisten Palästinenser, die im
vergangenen Herbst mit Messern auf Israelis losgegangen
sind, stammen von hier. Hebron, das aufgrund seiner reli-
giösen Stätten Besucher aller abrahamitischen Religionen
geradezu magisch anziehen und wirtschaftlich boomen
könnte, wirkt depressiv. Ähnlich ergeht es zunehmend
auch der Stadt, die so leidenschaftlich umkämpft ist wie
wohl keine andere auf der Welt: Jerusalem.
Ein israelischer Checkpoint macht die Ash-Shuhada-Straße in Hebron für
Palästinenserinnen und Palästinenser zu einem unüberwindbaren Hindernis.