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Ein Länderporträt über Palästina

Einsichten und Perspektiven 4 | 16

Beschreibung der Aussprüche und Handlungen des

Religionsgründers und solche von Anhängern, deren

Verhalten er billigte. Mohammad legte der Überliefe-

rung nach beispielsweise in Anlehnung an die jüdische

Tradition als erste Gebetsrichtung zunächst einmal Jeru-

salem fest.

70

Die eigentliche Antwort aber findet sich

in der Altstadt, auf dem Platz, der dem Paradies den

Muslimen zufolge am nächsten ist

71

: der

Haram asch-

scharif

(„gewürdigtes Heiligtum“), hierzulande besser

bekannt als Tempelberg: Auf ihm stehen der mit seiner

goldenen Kuppel das Stadtbild dominierende zwanzig

Meter hohe Felsendom

72

und die

Al-Aqsa

-Moschee.

Ersterer ist mit seinen acht Ecken das älteste vollstän-

dig erhaltene islamische Bauwerk der Welt – er wurde

genau über dem „ursprünglichen Stein“ des Judentums

errichtet, wo sich mit der Bundeslade das Allerheiligste

des Tempels Salomons befunden haben soll: Hier sollte

Abraham seinen Sohn Isaak opfern. Für die Muslime

war das von Gott verhinderte Opfer zwar nicht Isaak,

sondern der zweitgeborene Ismael, Vorvater der Araber,

doch die Geschichte findet sich ganz ähnlich im Islam.

Ihr Prophet Mohammad soll an dieser heiligen Stelle

in den Himmel aufgefahren sein; ein Fußabdruck auf

dem Felsen wird als Zeuge dieses Ereignisses betrach-

tet.

73

Genauso wie für die jüdischen und christlichen

Deutungen der einzelnen Kultstätten lassen sich freilich

auch für die islamischen zahlreiche wissenschaftliche

Einwände vorbringen

74

– doch darum geht es nicht,

70 Der Islam sieht sich als Nachfolger des Juden- und des Christentums und

akzeptiert daher viele der biblischen Geschichten oder deutet sie in sei-

nem Sinne um. Es ist naheliegend, dass Mohammad Jerusalem erwählte,

um die Juden in seiner Umgebung leichter zum Islam bekehren zu können;

es wurden auch viele andere religiöse Traditionen wie etwa etliche Rein-

heitsgebote aus dem Judentum übernommen. Die Gebetsrichtung wurde

jedoch 622 n. Chr. nach Mekka verschoben, nachdem Mohammad nach

Medina weitergezogen war: Seine Hoffnung, die Juden aus Mekka von

seiner Mission zu überzeugen, war missglückt. Vgl. Yaron (wie Anm. 17),

S. 112.

71 Ein Gebet soll hier angeblich 500 Mal effektiver sein als an einem beliebi-

gen anderen Ort auf der Welt. Jerusalem ist auch ein äußerst beliebter Ort

für Bestattungen: Die Auferstehung, an die auch Muslime glauben, soll

hier beginnen. Vgl. Yaron (wie Anm. 17), S. 119.

72 Der Bau des Felsendoms wurde vermutlich als muslimische Antwort auf

die christliche Grabeskirche von dem Umayyaden-Kalifen Abd al-Malik

(646 bis 705) begonnen und 691 n. Chr. vollendet. Vgl. Yaron (wie Anm.

17), S. 114 f.

73 Auch hier wird die Stelle in den religiösen Schriften des Islam nicht na-

mentlich genannt; es ist vom „weit entfernten Ort der Anbetung“ die

Rede, der zu zahlreichen Spekulationen Anlass gab. Seit dem 8. Jahrhun-

dert gehen Muslime davon aus, dass es sich dabei um den Tempelberg

handelt. Vgl. Yaron (wie Anm. 17), S. 116 f.

74 Vgl. die ausführliche und unterhaltsame Monographie des Historikers Mon-

tefiore, der alle Religionen im Blick hat, vgl. Montefiore (wie Anm. 67).

denn auch der Glaube schafft Realität. Die Stadt Jeru-

salem ist in bester, schlimmster und absonderlichster

Hinsicht vielleicht die glaubwürdigste Zeugin dafür.

75

Beziehungsstatus: Es ist kompliziert

Heute wird der Tempelberg mit all seinen Heiligtümern

von einer islamischen Stiftung

(Waqf ),

verwaltet. Juden

dürfen zur Klagemauer, aber den Platz mit Felsendom

und

al-Aqsa

-Moschee nicht betreten. Die Altstadt, die zu

Ostjerusalem gehört und einen Quadratkilometer groß

ist, ist in ein jüdisches, ein muslimisches, ein christli-

ches, ein armenisches und ein marokkanisches Viertel

unterteilt. Abseits religiöser Fragen, die ja alle gläubigen

Muslime betreffen, ist Jerusalem aber vor allem eines:

„der politisch[e], wirtschaftlich[e] und geistig[e] Nabel

des palästinensischen Volkes“ 

76

. Eigentlich gehört Ost-

jerusalem zum Westjordanland – Israel annektierte den

Stadtteil 1980 durch einen offiziellen Beschluss des isra-

elischen Parlaments, der Knesset.

77

Die seit dem Jahr

2002 gebaute Sperranlage zur Terrorabwehr, die Jerusa-

lem vom Westjordanland abtrennt, ist in der Stadt ein

dominierendes Statement aus Stein. Die palästinensi-

schen Bewohner Ostjerusalems – auch hier werden mehr

und mehr jüdische Siedlungen gebaut – haben einen

Sonderstatus: Als „ständige Einwohner“ ist es ihnen

erlaubt, sich innerhalb Israels zu bewegen. Sie erhalten

spezielle blaue Ausweise, die sie auch am israelischen

Sozialversicherungssystem teilhaben lässt. Dieser Status

kann den Palästinensern entzogen werden, wenn sie sich

länger nicht in der Stadt aufhalten – offiziell sind es drei

Jahre, bis man ihnen das Wohnrecht entziehen kann,

doch es werden immer wieder Fälle mit einer kürzeren

Frist bekannt.

78

Seit 1967 wurden 14.000 der „ständi-

gen“ Aufenthaltsgenehmigungen wieder entzogen, auch

als Bestrafung für Terroraktivitäten von Familienmit-

75 Der Glaube ihrer Bewohner und Besucher führt sowohl zu Momenten der

tief empfundenen Spiritualität, als auch der erbitterten Konfrontation und

des Wahns. Das sogenannte „Jerusalem-Syndrom“ bezeichnet eine psy-

chische Störung, für die eine eigene Abteilung im

Kfar Schaul

-Kranken-

haus eingerichtet wurde: Im Zeitraum 1980 bis 1993 wurden dort 1200

Patienten, meist Protestanten, untersucht. Manche wurden im Glauben,

Johannes der Täufer zu sein, in ein Bettlaken gehüllt, in der Wüste gefun-

den, andere versuchten, als Jungfrau Maria in der Grabeskirche Jesus zu

gebären. Vgl. Yaron (wie Anm. 17), S. 149.

76 Yaron (wie Anm. 17), S. 111.

77 Die Vereinten Nationen erklärten diesen Akt für völkerrechtswidrig erken-

nen ihn bis heute nicht an.

78 Ein in Deutschland prominentes Beispiel war der Palästinenser Firas Ma-

raghy, der im Sommer 2010 vor der israelischen Botschaft in Berlin des-

halb in den Hungerstreik trat.