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50 Jahre Sozialwissenschaftliches Gymnasium
Einsichten und Perspektiven 2 | 15
ab. Die Berechtigung für einen Mädchenzweig begrün-
deten sie damit, dass der Zweig an die „biologischen und
funktionalen Unterschiede der Geschlechter“ 
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anknüpfe
und mithin die Beschränkung des Zugangs für Mädchen
gerechtfertigt sei. Das Urteil in der Sache konnten sie nicht
verhindern. Die Richter hielten die Regelung imGesetz für
unvereinbar mit der Bayerischen Verfassung. Ihre umfas-
sende Begründung folgte der Sichtweise der politischen
Organe nicht. Sie bezog sich juristisch auf den Gleichheits-
grundsatz in der Bayerischen Verfassung. Seine Auslegung
wurde mit den gesellschaftspolitischen Verhältnissen und
Anschauungen in Verbindung gebracht, die sich so tief-
greifend geändert hätten, „daß die gesetzliche Regelung
und die ihr zugrundeliegende Wertung sich als offensicht-
lich fehlsam erweisen und den gegenwärtigen tatsächlichen
Verhältnissen eindeutig nicht mehr gerecht werden.“ 
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Das Erziehungs- und Unterrichtsgesetz musste in der
Folge im Landtag geändert werden, Jungen erhielten ab
dem Schuljahr 1986/87 Zugang zum Sozialwissenschaft-
lichen Zweig. Formal war das SWG jetzt koedukativ.
Direkte und sofortige Auswirkungen auf Fächer, Lehr-
pläne, Themen, Methoden oder Organisation des Zweigs
hatte dies nicht. Verwundern muss das schon deshalb, weil
doch in der Entstehungszeit und in den darauf folgenden
zwanzig Jahren so großer Wert auf die Fächergruppe der
Frauenbildung 
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im insgesamt deutlich mädchenorientiert
angelegten Zweig gelegt worden war. Diese Argumentati-
onslinie war mit dem Urteil zerbrochen. Man hätte also
ein schnelles Reagieren des Kultusministeriums erwarten
können. Anstöße für einen Wandel der Gesamtorientie-
rung des Zweigs kamen in den Folgejahren verstärkt aus
den Gymnasien.
Die Loslösung von der traditionellen Mädchenorien-
tierung
In Aufsätzen und bei Tagungen beklagten schon seit Mitte
der Achtzigerjahre Direktoren und Lehrkräfte immer wie-
der die Legitimations- und Imageprobleme des Zweigs.
Die Klagen verstärkten sich, als auch Jungen Zugang
erhielten, ihr Anteil jedoch vor allem wegen der noch
traditionell mädchenspezifischen Ausrichtung nur verhal-
ten anstieg. Im Jahr 1990 lag er am SWG bei nur rund
zwei Prozent bei der Abiturprüfung – es waren die ersten
SWG-Jungen. Auch sechs Jahre später war er erst auf rund
zehn Prozent gestiegen und blieb stets unter der 20-Pro-
zent-Grenze. 
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Den Schuldigen für das Imageproblem sah man vor
allem beim – neben Sozialkunde zweiten – Profilfach
„Hauswirtschaftslehre“. Es transportierte nach wie vor die
Botschaft, der Zweig bereite auf ein Leben als Hausfrau
und Mutter vor. Der Spott aus den Anfangsjahrzehnten,
hier würde das „Pudding-“ oder „Knödelabitur“ abge-
legt, wurde mitunter genüsslich vorgetragen. Dass das
Fach selbst nie etwas mit dem Abitur zu tun gehabt hatte,
wurde geflissentlich übersehen.
Vielfalt der Trägerschaft und ihre Entwicklung
seit 1965
Gymnasium mit sozi-
alwissenschaftlichem
Zweig in …
1965
Anzahl/in%
2015
Anzahl/in%
staatlicher Trägerschaft
4/14,8
26/49,0
kirchlicher Trägerschaft
10/37,0
17/32,0
städtischer Trägerschaft
12/44,4
7/13,2
privater Trägerschaft
1/3,7
3/5,7
Gesamt
27
53
Die Vielfalt der Träger ist eine der Besonderheiten,
die in der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte
des Sozialwissenschaftlichen Gymnasiums begründet
sind. In der Folge wurden den Schulen Entfaltungs-
chancen eröffnet, die sie je nach Werdegang, Situation
und Umständen nutzten, ohne die gemeinsame Basis
zu gefährden.
6 Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 27.2.1985, Vf.9-
VII-82, BayVBl 1986 Grund 36.
7 Bayerischer Verfassungsgerichtshof (wie Anm. 6).
8 Vgl. Senninger (wie Anm. 2).
9 Die Prozentzahlen sind errechnet aus den jährlichen Veröffentlichungen
des Kultusministeriums zu den Abiturergebnissen.
1...,36,37,38,39,40,41,42,43,44,45 47,48,49,50,51,52,53,54,55,56,...80
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