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50 Jahre Sozialwissenschaftliches Gymnasium
Einsichten und Perspektiven 2 | 15
Der runde Geburtstag des Sozialwissenschaftlichen Zweigs, den 27 bayerische
Gymnasien im Schuljahr 1965/66 einführten, bietet Anlass, auf seine Wurzeln
und Anfänge und eine evolutionäre Entwicklung zurückzublicken. Wer um diese
Dynamik und Vitalität weiß, mag zudem seine heutigen Stärken und Potenziale
treffender einschätzen.
Die Wandlungen und Besonderheiten des Zweigs verknüpfen sich an vielen
Stellen mit der bayerischen Gesellschafts- und Bildungspolitik. Wenn man von
seiner „stillen Karriere“ spricht, meint man weniger die Verdopplung der Zahl
der Gymnasien als vielmehr eine von Anfang an lebenspraktische und lebens­
nahe Orientierung. Sie machte den Zweig zum Vorreiter für manche Entwick­
lung in der bayerischen Schullandschaft und begründet seine frühere und
seine neue Attraktivität.
Mädchenbildung in der Tradition von Orden und
Höheren-Töchter-Schulen
Seit dem 18. Jahrhundert zielte die Bildung von Mäd-
chen – oft erwachsen aus mittelalterlichen klösterlichen
Traditionen – auf deren dreifache Bestimmung als Haus-
frau, Ehefrau und Mutter. Dieses Frauenbild, das Nähen
und Stricken für wichtiger hielt als Schreiben, Lesen,
Rechnen oder Fremdsprachen, schloss die Frauen von
einer gleichberechtigten Bildung aus und hielt sie lange
von akademischen Berufen und öffentlichen Ämtern fern.
Erst mit der Neuordnung des Mädchenschulwesens von
1911 erhielten die Mädchen Zugang zur höheren Bildung,
in Bayern meist über die katholischen Frauenorden sowie
private und kommunale Einrichtungen. Häufig gründe-
ten Honoratioren „Höhere Töchter-Schulen“, um ihren
Töchtern so eine gehobenere Form der Frauenbildung
und ggf. bessere Heiratschancen zu eröffnen. Aufgrund
ihrer Tradition waren diese drei Gruppen von Schult-
rägern besonders geeignet, ab dem Schuljahr 1965/66
das Sozialwissenschaftliche Gymnasium für Mädchen
als neue Ausbildungsrichtung aufzubauen. Im Rahmen
einer gezielten Bildungsexpansion, ausgelöst durch Georg
Pichts Weckruf von der „Bildungskatastrophe“ (1964),
sollte der Zweig die Mädchen als Begabungsreserve für
akademische Berufe erschließen, auch mit Blick auf den
erheblichen Mangel an Lehrkräften in den Volksschulen.
Der Anfang des SWG: die „spezifischen Bildungs-
bedürfnisse der Mädchen“
Für Bayern bedeutete es eine überraschende Zäsur in der
Bildungspolitik, als der damals frisch berufene Kultus-
minister Ludwig Huber (CSU) am 3. Dezember 1964
während seiner ersten Rede vor dem Landtag ankündigte,
staatliche Sozialwissenschaftliche Gymnasien (SWG) für
Mädchen einrichten zu wollen. Hierfür erhielt er auch die
grundsätzliche Zustimmung der Opposition, die schon
länger für bessere Bildungschancen der Mädchen am
Gymnasium geworben hatte. Im Hinblick auf die Gestal-
tung des Zweigs hatten die Parteien sehr unterschiedliche
Auffassungen. Die CSU favorisierte die Vorstellung, Mäd-
chen auf ihre Doppelfunktion als Hausfrau und Mutter
vorzubereiten, indem der neue Schultyp verstärkt mit
Handarbeits- und musischem Unterricht, Haushalts- und
Ernährungslehre, Säuglings- und Erziehungslehre, Fami-
lienkunde, Physik und Soziallehre ausgestattet werden
sollte. Die SPD-Opposition befürchtete allerdings einen
Rückfall in die Zeit der Höheren-Töchter-Bildung auf
anspruchsvollerem Niveau, die die Gleichwertigkeit der
Ausbildung mit den Knaben verhindern würde.
In einem Vortrag vor dem bayerischen Landesschulbei-
rat am 25. Mai 1965 begründete die zuständige Referentin
für die höheren Mädchenschulen im Kultusministerium,
Ministerialrätin Dr. Kunigunde Senninger, die Einfüh-
rung des neuen Zweiges damit, dass sich bislang die For-
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