Einsichten und Perspektiven 2|15 - page 63

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Einsichten und Perspektiven 2 | 15
Ich muss nur das Wort „Mauer“ hören, lesen oder mir in
den Sinn rufen, schon erfüllt mich eine wahre Flut von
Bildern: Komische und traurige, erheiternde und bedrü-
ckende, romantische und hässliche, Sehnsucht weckende
und abstoßende, höchst gegensätzliche jedenfalls. Ein
Kinderliedchen fällt mir ein, „Auf der Mauer, auf der
Lauer sitzt ’ne kleine Wanze“, wir haben, den Spaß eines
Erwachsenen imitierend, gesungen: „Auf der Mauer, auf
der Lauer sitzt der Konrad Adenauer“ und fanden das
total komisch, wenn wir uns den alten Mann mit dem Fal-
tengesicht, das damals allgegenwärtig war, vorstellten, wie
er auf einer Mauer hockend wie ein Affe auf dem Schleif-
stein, zu uns herabgrinste.
An das Mäuerchen denke ich, das irgendein großes
Grundstück zum Bürgersteig hin begrenzte; wenn wir
zum Einkaufen gingen, durfte ich an der Hand meiner
Mutter darauf balancieren; ein paar Augenblicke lang war
man so was wie ein „Großer“ und hatte eine neue Perspek-
tive auf die Welt.
Und natürlich erinnere ich mich an die Mauer aus Feld-
steinen in unserem Garten, die nach heißen Sommertagen
die Sonnenwärme speicherte und einem obendrein vor Bli-
cken aus dem elterlichen Wohnzimmer verbarg, so dass man
unbeobachtet eine strikt verbotene Zigarette rauchen konnte.
Die Hafenmauer meiner Heimatstadt will ich nicht ver-
gessen. Sie schützt die niedriggelegenen Teile der Stadt vor
demWasser, das in unermüdlichem Auf und Ab gegen die
festgefügten Ziegel klatscht und nur selten zornig rauscht
und schwillt: Die Ostsee ist zwar kalt, aber viel weniger
aufbrausend als ihr wilder Bruder, die Nordsee. So ver-
binde ich mit ihr nur das sanfte Plätschern, die dicken
Poller, an denen die Ausflugskähne und die Fischerboote
festmachten, und den Geruch nach Hafenwasser, Teer,
nassen Tauen und geräuchertem Aal.
Den Schulhof meines alten Gymnasiums umgab eine
hohe Mauer, dem Stil des frühen 20. Jahrhunderts und der
Würde des Ortes angemessen, mit Zinnen und Ziegelkronen
geschmückt. Sie hatte ihre Funktion, nach draußen strebende
Buben zur Disziplin anzuhalten, längst verloren. Vielmehr
bot sie Raum zum Sich-Zurückziehen, speicherte Sonnen-
wärme und war so weit von der Schultür entfernt, dass man
die Pause um eine kostbare Minute verlängern konnte.
Neben den friedlichen und idyllischen tauchen aber
auch eher unerfreuliche Bilder auf – eines davon direkt
in Verbindung mit meinem täglichen Schulweg. Dabei
musste ich die Staatsanwaltschaft passieren, und direkt
an sie angrenzend lag das Gefängnis, umgeben von einer
hohen stacheldrahtbewehrten Mauer. Am Eingangsportal
befand sich die Statue einer blinden Justitia, umrahmt
von einem Spruch über die Mühlen der Gerechtigkeit, der
meine kindliche Phantasie immer wieder beschäftigte.
Ganz ähnlich aus gemauertem Ziegelwerk sah eine
andere Mauer aus, die nicht nur Gefahr signalisierte,
sondern uns zu einem Umweg von mehreren Kilometern
zwang, wenn wir zum Baden gehen wollten.
Wir hätten es kaum mehr als 500 Meter zum Strand
gehabt damals, aber eine doppelmannshohe Mauer, bekrönt
von Stacheldraht, sperrte das Gelände zum Strand an die-
ser Stelle weiträumig ab. „Militärisches Sperrgebiet“, stand
auf überall angebrachten Schildern zu lesen, „Achtung,
Schusswaffengebrauch!“ Dahinter befand sich das Reich
der Marine, deren Schiffe wir gelegentlich weit draußen in
der Förde kreuzen sahen, und das Verbot, dieses Reich zu
betreten, missachteten wir nie, glaubten wir doch, Gefahr
zu laufen, von einer Kugel getroffen zu werden – und das
war, wie man aus „Bonanza“ wusste, meistens tödlich.
Auch der Krieg hatte uns Mauern hinterlassen. Nicht
weit von meinem Elternhaus gab es ein großes verwilder-
tes Grundstück. Aus Hollerstauden und Haselbüschen
ragten Mauern auf, grau wie die Schiffe draußen auf der
Förde, manche geborsten und mit herausragenden rosti-
gen Eisenträgern, manche noch ganz, niedrig und plump,
von gedrungener Scheußlichkeit. Ein Schild hing an dem
Zaun, der das Ganze umgab: „Betreten der Bunkeranlage
verboten! Lebensgefahr!“ Natürlich hat uns neun- oder
zehnjährige Jungen das nicht abgehalten, das Innere der
düsteren Mauerwerke einmal zu erkunden, die Gefahr,
dass herabstürzende Betontrümmer uns erschlagen könn-
ten, lag außerhalb unseres Vorstellungsvermögens. Aber
drinnen in diesen modrigen, beklemmend düsteren Mau-
ern beschlich uns doch ein Gefühl der Furcht, und wir
waren froh, wenn wir wieder draußen waren.
Indes, das Gefühl blieb unbestimmt, denn die Betonru-
inen verbreiteten für uns nicht die Aura von Krieg, Zerstö-
rung und Tod; dafür fehlte uns die Vorstellung von dröh-
nenden Mosquito-Motoren, vom Jaulen der Sirenen, vom
Krachen der Einschläge, vom fahlen Licht der „Christ-
bäume“, von erstickten, erschlagenen oder verbrannten
Menschen – niemand sprach mit uns darüber in diesem
zweiten Jahrzehnt nach dem Krieg.
Doch das Bild eines anderen Mauerwerks drang umso
mehr in unser Bewusstsein – und anders als jene Mauerreste,
die der Krieg hinterlassen hatte und über die man nicht gerne
redete, war diese neue Mauer ständig präsent – durch das
Medium, das Anfang der Sechziger die Wohnstuben mehr
und mehr eroberte – das Schwarz-Weiß-Fernsehen.
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