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Die Türkei 2015: Atatürks Albtraum

Einsichten und Perspektiven 4 | 15

Die Schizophrenie der modernen Türkei

Mit dem Laizismus Atatürk’scher Prägung ist es im Lande

längst vorbei. Die Kompetenzen des

Diyanet

sind umfas-

send: 

1

Es kontrolliert und verwaltet die rund 80.000

Moscheen der Türkei, stellt deren Geistliche an, schreibt

die Freitagspredigten und organisiert die offiziellen Koran-

kurse des Landes. Es spricht

Fatwas,

religiöse Handlungs-

anweisungen, aus und beaufsichtigt die

Hac

– so nennen

Türken die Pilgerreise nach Mekka. Statt den Islam als Pri-

vatangelegenheit zu behandeln, setzt die Türkei auf eine

umfassende Kontrolle der Religion: Das

Diyanet

, das hier-

für als Hauptinstrument dient, ist als Behörde dem Amt

des Ministerpräsidenten zugeordnet. Auf Fragen nach dem

säkularen Staatswesen angesichts dieser Befunde reagiert

man im Hause

Diyanet

gereizt. Man sehe hier keine Dis-

krepanz, heißt es schmallippig.

In der Tat: Der Begriff Diskrepanz passt nicht, man

würde damit untertreiben. In den Räumlichkeiten des

1 Vgl. Heinz Kramer: Ideologische Grundlagen und Verfassungsrahmen,

in: Türkei (= Informationen zur politischen Bildung Nr. 313), Bonn 2011,

S. 11–25, hier S. 20 f.

Diyanet

in Ankara spiegelt sich die Schizophrenie der

modernen Türkei wie an vielen anderen Orten des Lan-

des. Auch wenn der Republikgründer dem Islam kritisch

gegenüberstand: Egal, wie klein das Städtchen, egal wie

religiös-konservativ dessen Bewohner – der zentrale Sam-

melpunkt einer Gemeinde ist fast immer der

Atatürk

Meydanı

mit dazugehöriger Statue oder wenigstens Büste.

Verabredungen am Atatürk-Platz können getrost beim

ersten Besuch einer türkischen Stadt ohne einen einzigen

Blick auf die Karte getroffen werden.

Die Verehrung des Staatsgründers führt dazu, dass es

sich weder Staatsoberhaupt noch Ministerpräsident in der

Türkei erlauben kann, sich öffentlich von Atatürk zu dis-

tanzieren, auch wenn sich die Politik offensichtlich längst

von der kemalistischen Doktrin entfremdet hat. Während

Recep Tayyip Erdoğans autoritärer Führungsstil sich dem

Mustafa Kemals annähert, könnten die politischen Inhalte

kaum verschiedener sein. Das verbindende Element ist

lediglich der starke Nationalismus; die gesellschaftlichen

Vorstellungen sind mitnichten zu vereinbaren.

Abbildung: Kartographie Kämmer, Berlin