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Die Türkei 2015: Atatürks Albtraum
Einsichten und Perspektiven 4 | 15
Das Reich der Osmanen
Während Millionen von Türkinnen und Türken – zuletzt
49,5 Prozent der Wählerinnen und Wähler
2
– mit der
2001 gegründeten
Adalet ve Kalkınma Partisi
(AKP –
„Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“) die Partei
desjenigen Mannes wählen, der Atatürks säkulares Erbe
in den Augen nicht weniger Beobachter zugrunde rich-
tet, berufen sich viele gleichzeitig in Diskussionen um den
türkischen Nationalstolz auf „ihren“ Staatsgründer. Wer
verstehen will, wie das zusammengeht, muss die Antwort
in der türkischen Geschichte suchen.
Obgleich erst 1923 gegründet, blickt die moderne Tür-
kei auf eine lange historische Tradition zurück. Das mäch-
tige Osmanische Reich ist im frühen 14. Jahrhundert
entstanden.
3
Namensgeber Osman I. war Herrscher eines
muslimischen Stammes aus Nordwest-Anatolien und
begann im Jahr 1299, sein Herrschaftsgebiet zunehmend
von dem der gleichsam turkstämmigen Rum-Seldschuken
loszulösen. Daraus entwickelte sich eine Jahrhunderte
währende dynastische Herrschaft, die sich auf dem Höhe-
punkt ihrer Macht über weite Teile des Nahen Ostens
und Kleinasiens, des Balkans, Nordafrikas und der Krim
erstreckte. 1453 eroberten die Osmanen unter Sultan
Mehmed II. Konstantinopel, das fortan auch unter dem
osmanisierten Namen
Konstantiniyye
oder İstanbul
4
als
Hauptstadt des riesigen Reiches diente. Das Ereignis besie-
gelte nicht nur den endgültigen Aufstieg des Osmanischen
Reichs zur Großmacht, sondern auch den Niedergang des
christlich-orthodoxen Byzantinischen Reichs, das auf eine
fast tausendjährige Geschichte zurückblickte. Konstan-
2 Laut amtlichem Endergebnis der Neuwahlen vom November 2015 kommt
die AKP auf 317 von 550 Sitzen in der Nationalversammlung, hält also die
absolute Mehrheit. Die Mitte-Links-Partei CHP
(Cumhuriyet Halk Partisi)
erhielt 25,32 Prozent der Stimmen (134 Sitze) gefolgt von der kurdisch ge-
prägten HDP
(Halkların Demokratik Partisi)
mit 10,76 Prozent und 59 Sitzen.
Die ultra-nationalistische MHP
(Milliyetçi Hareket Partisi)
kommt im neuen
Parlament auf 40 Sitze, obwohl sie mit 11,9 Prozent mehr Stimmen erlangte
als die MHP, was an den Eigenheiten der türkischen Wahlkreiseinteilung
liegt. Das ausführliche Ergebnis, das auch interessante Rückschlüsse auf
die türkische Wählerschaft im Ausland zulässt, ist (nur auf Türkisch ver-
fügbar) hier abrufbar:
http://www.ysk.gov.tr/ysk/content/conn/YSKUCM/path/Contribution%20Folders/SecmenIslemleri/Secimler/2015MVES/96-D.
pdf [Stand: 19.11.2015]; die sich daraus ergebende Sitzverteilung: http://
www.ysk.gov.tr/ysk/content/conn/YSKUCM/path/Contribution%20Folders/SecmenIslemleri/Secimler/2015MVES/96-E.pdf [Stand: 14.11.2015].
3 Das nach wie vor versierteste Überblickswerk zum Osmanischen Reich
in deutscher Sprache stammt von Klaus Kreiser: Der Osmanische Staat
1300–1922,
2
München 2008.
4 Die formelle Umbenennung der Stadt in İstanbul, das vermutlich aus dem
Altgriechischen entlehnt wurde und so etwas wie „in die Stadt“ bedeutet,
erfolgte erst 1930, als Mustafa Kemal den Namen Konstantinopel wegen des
darin anklingenden historischen Bezugs bewusst abschaffte. Die Stadt war
zu diesem Zeitpunkt im Volksmund längst als solche bezeichnet worden.
tinopel wurde zwar geplündert, doch man versuchte im
Anschluss, die alteingesessene Bevölkerung – insbesondere
Griechen und Juden – zum Bleiben zu bewegen.
Es folgte die Blütezeit des Osmanischen Reichs unter
Sultan Süleyman I., der erstmals ein Rechtssystem neben
der islamischen
Shari’a
umfassend kodifizierte. In seine
Regentschaft fällt auch die erfolglose, aber noch immer
berüchtigte Belagerung von Wien aus dem Jahr 1529.
Der „kranke Mann am Bosporus“
Trotz des Erfolgs Süleymans I. auf seinen sonstigen Erobe-
rungsfeldzügen kämpfte die „Pforte“
5
bereits mit Kri-
senerscheinungen, die schließlich mehrere Jahrhunderte
später zum Fall des Osmanischen Reichs beitragen sollten:
mangelnder Rückhalt in der Landbevölkerung aufgrund
hoher Steuern und Inflation, finanzielle Schwierigkeiten
durch Militärausgaben, Korruption und Ämterkauf. Die
Probleme der einfachen Bevölkerung insbesondere in
Anatolien führten zu Aufständen und Landflucht, deren
Folgen noch bis heute in den unterentwickelten türkisch-
ländlichen Gebieten zu spüren sind.
Die Regentschaften schwacher Nachfolger verschärften
die Krisensymptome des riesigen Reichs. Die militärische
5
Babıali
(osman.: „Hohe Pforte“) ist ein Metonym für den Sitz der osma-
nischen Regierung, das ursprünglich die Eingangspforte des Istanbuler
Sultanspalastes bezeichnete.
Die Eroberung Konstantinopels durch die Türken unter Sultan Mehmed II.
am 29. Mai 1453 (Illustration aus dem 15. Jahrhundert)
Abbildung: ullstein bild