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Syrien stirbt

Einsichten und Perspektiven 1 | 16

Chemiewaffenprogramm außer Landes bringen und zerstö-

ren zu lassen; 

48

die angedrohten Bombardierungen durch

die USA aber blieben aus. Unter Vermittlung Irans gelang

schließlich eine Übereinkunft zwischen Assad und der syri-

schen Opposition: Im Gegenzug zum Abzug der oppositi-

onellen Milizen aus Homs erhielten deren Kämpfer freies

Geleit in den Norden Syriens, wo sie im Anschluss bis in den

Nordwesten große Gebietsgewinne verzeichnen konnten.

Von Beginn an wurde die Entwicklung des Syrien-

Konfliktes auch von außerhalb bestimmt: Die Golfstaaten

bewaffneten die Assad-Gegner, Iran unterstützte die ver-

bündete syrische Regierung auch mit der Entsendung von

libanesischen

Hisbollah

-Kämpfern, internationale Dschi-

hadisten entdeckten ein neues Betätigungsfeld und konn-

ten von der türkischen Regierung weitgehend ungehin-

dert über deren Grenze nach Syrien gelangen. Dies führte

schließlich zur Etablierung eines Akteurs, den Experten zu

Beginn der Proteste nicht auf der Rechnung hatten: des

selbsternannten „Islamischen Staats“ 

49

– in weiten Teilen

der arabischen Welt nur

Daish

genannt 

50

–, der im Som-

mer 2014 im Irak und in Teilen Syriens ein Kalifat 

51

aus-

rief. Die Schreckensmeldungen über den neuen Akteur

im Nahen Osten in der globalen Berichterstattung über-

schlugen sich: Der IS schockierte mit öffentlichkeitswirk-

sam inszenierten Enthauptungen vor laufender Kamera,

Hinrichtungen westlicher Journalisten, Versklavung von

Frauen und Kindern, Massaker an „ungläubigen“ Zivilis-

ten, Zerstörung von Kulturdenkmälern. Das brutale Vor-

gehen der Fundamentalisten gegen die Jesiden im Norden

Syriens verhalf einer anderen Kriegspartei zu globalem

48 Die Chemiewaffeninspektoren der Vereinten Nationen gehen nach wie vor

davon aus, dass das syrische Regime einen Teil seiner Senfgas-Vorräte

heimlich behalten hat.

49 Über den IS sind in Deutschland zwei lehrreiche Bücher erschienen: Gui-

do Steinberg: Kalifat des Schreckens. IS und die Bedrohung durch den

islamistischen Terror, München 2015; Behnam T. Said: Islamischer Staat.

IS-Miliz, al-Qaida und die deutschen Brigade,

4

München 2015.

50 Dabei handelt es sich um ein Akronym des arabischen Namens des IS,

Al-Dawla al-Islamiyya fi-l-Iraq wa-l-Sham

(„Islamischer Staat im Irak

und Großsyrien“). Das daraus gebildete Wort hat eine eindeutig nega-

tive Konnotation, da dessen sogenannte Wurzel (meist drei Buchstaben,

die mit einer bestimmten Bedeutung versehen sind, auf der die arabische

Wortbildung basiert) mit dem Verb „auf etwas herumtrampeln“ assoziiert

wird. Die Verwendung des Begriffs steht in den Gebieten des IS daher so-

gar unter Strafe. Vgl. Marie Schreier und Benjamin Weiß: „Der Arabische

Frühling war ein epochales Ereignis“. Interview mit Daniel Gerlach, in: bpb

Magazin (Oktober 2015), S. 22ff., hier S. 23.

51

Kalifat

wurde historisch die Institution des weltlich-religiösen Herrschers

in der muslimischen Welt genannt. Kalif bedeutet „Stellvertreter“. Der Be-

griff geht zurück auf die Zeit nach dem Tod des Propheten Mohammad,

dessen erste vier Nachfolger, also die Anführer des muslimischen Gemein-

wesens, als „rechtsgeleitete Kalifen“ bezeichnet wurden. Christian Szyska:

Kalifat, in: Elger/Stolleis (wie Anm. 11), S. 166 f.

Ansehen: Der syrische Ableger der kurdischen Arbeiterpar-

tei PKK, die „Volksverteidigungseinheiten“ (YPG), die die

betroffenen Städte erbittert verteidigten, konnten sich im

Nordosten des Landes erfolgreich gegen den IS zur Wehr

setzen – und kontrollieren inzwischen ein großes Gebiet.

Der Krieg der Anderen

Inspiriert von den Untaten der selbsternannten Got-

teskrieger des IS zogen insbesondere Fundamentalisten

aus anderen nahöstlichen Staaten und aus Europa in die

Region. Während sich in dem weiterhin vom syrischen

Regime kontrollierten Landesteil Bashar al-Assad nach

einer „Volksabstimmung“ zum neuen Präsidenten erklärte,

begann eine internationale Koalition unter amerikani-

scher Führung Luftschläge gegen den IS durchzuführen;

das ebenfalls nach wie vor mordende Assad-Regime wurde

dabei nicht bekämpft. Schließlich schaltete sich auch Russ-

land ein – und unterstützte das Regime mit Luftangriffen,

vornehmlich gegen die syrische Opposition in Teilen des

Landes, in denen der IS nicht kämpfte. Im Februar 2016

machte Aleppo Schlagzeilen – eine Hochburg der Opposi-

tion, die durch russische Unterstützung von Assad-Truppen

eingekesselt wurde. Erneut waren zehntausende Menschen

zur Flucht gezwungen. Mittlerweile häufen sich auch die

Berichte über russische Bodentruppen an der Seite Assads. 

52

Die Fronten innerhalb des Landes verschieben sich täg-

lich; unzählige Milizen bekämpfen sich gegenseitig auch

innerhalb der jeweiligen Einflussbereiche. Im Internet-

zeitalter kann man die Machtverschiebungen tagesaktuell

verfolgen. 

53

Deshalb sind viele Syrerinnen und Syrer bereits

mehrfach innerhalb des Landes geflohen: Regionen, in

denen die Menschen längerfristig halbwegs sicher leben

können, gibt es kaum mehr. Der ehemalige syrische Staat

ist grob in fünf Machtbereiche zerfallen: Neben den Kurden

im Nordosten und dem IS im Osten des Landes herrscht

im zentralen Westen und an der Küste die Assad-Regierung

mit Hilfe ihrer Unterstützer. Die Gebiete der syrischen

Opposition liegen unzusammenhängend im Nordwesten

und im Süden des Landes. Diese ist zutiefst fragmentiert:

Sowohl die säkular ausgerichtete

Freie Syrische Armee

als

auch die syrische Exilopposition sind mittlerweile aufgrund

mangelnder internationaler Unterstützung marginalisiert.

52 Dies ergab etwa eine Auswertung von Video-Aufnahmen der SPIEGEL-

Redaktion. Vgl. Syrienkrieg: Russische Bodentruppen unterstützen Assad-

Offensive, in: Spiegel Online vom 12.02.2016, vgl.

http://www.spiegel.

de/politik/ausland/syrien-russische-bodentruppen-unterstuetzen-assad-

offensive-a-1077054.html [Stand: 14.02.2016].

53 Vgl.

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:

Syrian_civil_war.png.