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Syrien stirbt
Einsichten und Perspektiven 1 | 16
krank, als er verschwand, benötigte täglich Medikamente.
Ahmad A. weiß bis heute nicht, warum er selbst wieder frei-
kam. Genauso plötzlich, wie er hinter den Gefängnismauern
verschwand, stand er drei Monate später wieder davor.
Die Willkür des syrischen Regimes soll wohl eine demora-
lisierende Maßnahme für ein „aufsässiges“ Volk sein.
Im November 2012 gedachten Syrerinnen und Syrer in München den Toten
der Revolution. Auf dem Bild ist der 13-jährige Hamza al-Khatib zu sehen,
dessen Leiche – übersät mit heftigen Folterspuren – seiner Familie nach
einmonatiger Haft im Mai 2011 vom Regime übergeben wurde.
Foto: Kristina Milz
Zersplitterte Opposition
Als besonders perfide muss auch die erfolgreiche Methode
des Regimes bezeichnet werden, ein Klima des Misstrau-
ens im Land zu säen. Nahost-Experte Daniel Gerlach zeigt
überzeugend auf, wie die konfessionellen Spannungen in
Syrien von Bashar al-Assad – wie bereits zuvor von dessen
Vater – systematisch geschürt wurden, um sich gewaltsam
Loyalität zu sichern.
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Viele Syrer wehren sich deshalb noch
heute gegen die Verwendung des Begriffs „Bürgerkrieg“
als Beschreibung der Situation in ihrem Land. Für sie ist
es ein Euphemismus für eine Methode, die es dem Regime
ermöglichte, die Macht unter allen Umständen zumindest
44 Gerlach (wie Anm. 30).
in Teilen des Landes zu erhalten. Dabei hatte insbesondere
die junge, besser gebildete Generation längst angefangen,
syrischen Patriotismus zu leben. Vielen war ihre konfessio-
nelle Zugehörigkeit zwar stets bewusst, doch in erster Linie
definierten sie sich als Syrer.
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Bashar al-Assad riss mit sei-
ner Taktik alte Gräben wieder auf, sprach von Terrorismus
und warnte vor sunnitischem Fundamentalismus: Eine sich
selbst erfüllende Prophezeiung – heute stehen sich die Kon-
fessionen im syrischen Krieg oftmals unerbittlich gegenüber.
Die syrische Revolution schaffte es zudem nicht, sich zu
einer zumindest in wenigen Grundsätzen einigen Opposi-
tion zusammenzufinden.
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Das Regime verhaftete tausende
Aktivisten; gleichzeitig ließ es aus ihren Gefängnissen Isla-
misten frei, die die Proteste unterwanderten. Nachdem die
Demonstrationen zunächst von Seiten der Protestierenden
friedlich verliefen, wurden die Rufe nach Selbstverteidigung
und Bewaffnung angesichts des blutigen Vorgehens des
syrischen Regimes immer lauter; Teile der Demonstranten
begannen sich zu bewaffnen und die Protestbewegung spal-
tete sich zunehmend. Auch etliche Angehörige der Armee
weigerten sich, sich an der brutalen Niederschlagung der
Proteste zu beteiligen und auf friedliche Demonstranten zu
schießen. Die aus der Regierungsarmee desertierten Solda-
ten fanden sich schließlich zur
Freien Syrischen Armee (FSA)
zusammen. Westliche Regierungen forderten einen Rück-
tritt Assads, die
Arabische Liga
und die
Vereinten Nationen
versuchten sich an einem Friedensplan – vergeblich, denn
das Regime hielt sich nicht an die Vereinbarungen: Weder
wurde ein Waffenstillstand eingehalten, noch wurden Pan-
zer und Artillerie aus Wohngebieten abgezogen. Immer
mehr internationale Dschihadisten reisten über die Türkei
nach Syrien ein. Als Damaskus im Sommer 2012 schließ-
lich zunehmend die Kontrolle über das Land verlor, setzte
die Regierung die Luftwaffe gegen das protestierende Volk
ein, die ersten Fassbomben
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fielen. Im Jahr darauf über-
schritt das syrische Regime eine von US-Präsident Barack
Obama definierte „rote Linie“ und setzte in einer Damas-
zener Hochburg des Protestes erstmals Giftgas ein, wobei
hunderte Menschen ums Leben kamen. Nach Verhandlun-
gen zwischen den Vereinigten Staaten und dem syrischen
Verbündeten Russland wurde Assad zwar gezwungen, sein
45 Vgl. diese Einschätzung auch bei Perthes (wie Anm. 27), S. 129.
46 Vgl. Heiko Wimmen: Syrien am Rande des Abgrunds, in: Arabische Zeiten-
wende. Aufstand und Revolution in der arabischen Welt, S. 178–184, hier
S. 181 f.
47 Als Fassbomben werden mit Metallschrott und Dynamit gefüllte Fässer
bezeichnet, deren Explosionen verheerende Wirkung haben, was viele zivile
Opfer zur Folge hat. Die Regierung warf sie aus Helikoptern ab.