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Europäische Erinnerungspolitik

Einsichten und Perspektiven 1 | 16

Die Frage nach einer „europäischen Identität“ stellt sich

heute angesichts der multiplen Krisen, denen sich der

Kontinent und vor allem die Europäische Union (EU)

gegenübersehen, in besonderer Dringlichkeit. Ein poten-

tiell wirkungsmächtiges Element politischer Identitäts-

stiftung ist ein gemeinsames „historisches Gedächtnis“,

worunter eine – wie auch immer im Einzelnen geartete –

Form der kollektiven Erinnerung an die Vergangenheit

verstanden werden kann. 

2

Indem es dazu beiträgt, die

Vergangenheit festzuhalten, zu ordnen und „verstehbar“

zu machen, dient historisches Gedächtnis der Sinnstiftung

und Gemeinschaftsbildung, insbesondere im Falle rascher

Wandlungsprozesse in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft

und Kultur.

Zugleich aber erweist sich das Konzept eines „histori-

schen Gedächtnisses“ als diffizil. Zwei Herausforderungen

ergeben sich bereits unmittelbar aus dem Begriff selbst:

erstens die Notwendigkeit eine grundlegend individuelle

Fähigkeit, nämlich das Erinnern, zu kollektivieren; zwei-

tens die Überbrückung der Kluft zwischen Geschichte als

Wissenschaft, die sich darauf beruft, auf dem Prinzip der

Objektivität und der Verarbeitung von Fakten zu beruhen,

und dem Erinnern als von Natur aus subjektivem Vor-

gang. 

3

Jeder Form von „historischem Gedächtnis“ wohnt

deshalb auch immer eine subjektive Komponente inne,

da die Wahl der Art und Weise, wie man sich der Ver-

gangenheit erinnert, notwendigerweise mit Werturteilen

einhergeht. Dementsprechend ergibt sich eine dezidiert

funktionale Rolle von historischem Gedächtnis, auch und

insbesondere im politischen Kontext.

Die Thematisierung von Geschichte und die Erinne-

rung daran ist ein weit verbreitetes Phänomen der Politik,

und in gewisser Weise unabdingbar für jedwedes politi-

sches System, zumal die Verortung der Gegenwart nicht

zuletzt durch Bezug auf die Vergangenheit erfolgt. Ein

immanentes Risiko besteht indes darin, dass Erinnerung

zum Spielball ideologischer Auseinandersetzung, gegebe-

nenfalls auch zum Instrument einer absichtlichen Miss-

deutung oder Fälschung von Geschichte, gemacht wird.

Umso mehr gilt dies, als Geschichtspolitik ihrem Wesen

nach immer auch mehr oder minder explizit auf Legiti-

mierung – oder umgekehrt Infragestellung – eines Status

2 Sofern nicht anders spezifiziert, werden im Rahmen dieses Aufsatzes „Ge-

dächtnis“ und „Erinnerung“ weitgehend synonym verwendet.

3 Pierre Nora hat diese Kluft einmal wie folgt charakterisiert: „Gedächtnis

trennt, Geschichte eint.“ Pierre Nora: „Nachwort“, in: Deutsche Erinne-

rungsorte. Band III, hg. von Etienne Francois und Hagen Schulze, Mün-

chen 2001, S. 681–686, Zitat S. 686.

Quo ausgerichtet ist: „Wer die Vergangenheit beherrscht,

beherrscht die Zukunft. Wer die Gegenwart beherrscht,

beherrscht die Vergangenheit.“ 

4

Dieses Diktum aus George Orwells „1984“ bringt das

vielfach historisch genutzte Potential einer Politisierung

und Instrumentalisierung von Geschichte treffend auf den

Punkt, und es verweist zugleich auf die große Verantwor-

tung der Herrschenden nicht nur für die Gestaltung von

Gegenwart und Zukunft, sondern auch den gewissenhaf-

ten Umgang mit der Vergangenheit.

Dies gilt ebenfalls für die europäische politische Ebene,

auf der sich kollektives historisches Erinnern besonderen

Rahmenbedingungen und Herausforderungen gegen-

übersieht. Diese sollen im Folgenden in knapper Form

thematisiert werden, indem

1) zunächst ein Abriss der besonderen Herausforderun-

gen bei der Schaffung eines gesamteuropäischen histo-

rischen Gedächtnisses und eine Darstellung aktueller

politischer Initiativen der Europäischen Union erfolgt;

2) danach bestehende Dilemmata europäischer Politik in

diesem Feld Thematisierung finden;

3) schließlich darauf aufbauend der Versuch unternom-

men wird, Entwicklungsperspektiven zukünftiger euro-

päischer Erinnerungspolitik zu skizzieren. 

5

Europäisches historisches Erinnern:

Herausforderungen und politische Initiativen

„Ist ein europäisches kollektives Gedächtnis möglich?“ lau-

tete der Titel eines kurzen Zeitschriftenartikels aus dem

Jahr 1993, 

6

und diese damals gestellte Frage erscheint heute

angesichts der allenthalben auszumachenden Desintegra-

tions- und Renationalisierungstendenzen innerhalb der

Europäischen Union aktueller denn je. Debatten über kol-

lektive Formen des Erinnerns an die Vergangenheit sind im

aktuellen wissenschaftlichen, öffentlichen und politischen

Diskurs weit verbreitet. Zugleich stellt sich auf dem europä-

ischen Kontinent mit seiner vielfältigen und in mancherlei

Hinsicht problematischen Geschichte ein gemeinsames his-

torisches Gedächtnis als besonders komplex dar – einerseits

angesichts des schieren Pluralismus bestehender historisch-

kultureller Erfahrungen, die auf europäischer Ebene zusam-

4 George Orwell: 1984, Frankfurt/Main 1982, S. 34.

5 Die nachstehenden Darlegungen folgen im Wesentlichen den – dort etwas

detaillierteren – Ausführungen in Markus J. Prutsch: Europäisches Histo-

risches Gedächtnis: Politik, Herausforderungen und Perspektiven, Brüssel

2

2015.

6 Gérard Namer: „Une mémoire collective européenne est-elle possible?“,

in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie/Revue suisse de sociologie/

Swiss Journal of Sociology 19 (1993), S. 25–32.