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Europäische Erinnerungspolitik
Einsichten und Perspektiven 1 | 16
mengeführt werden wollen, andererseits aufgrund dessen,
dass sich kollektives historisches Gedächtnis traditionell in
enger Wechselwirkung mit individuellen Staats- oder Nati-
onsbildungsprozessen entwickelt hat und nicht ohne Wei-
teres auf eine supranationale Ebene gehoben werden kann.
Drei für das Nahverhältnis von Nation beziehungsweise
Nationalstaat und kollektivem historischem Gedächtnis
charakteristische und eine Universalisierung erschwerende
Elemente lassen sich nennen:
I. Es besteht insofern eine unmittelbare Verbindung
zwischen historischem Gedächtnis und der jeweili-
gen Nation(sbildung), als bestimmte Ereignisse der
Vergangenheit als Initialzündung oder zentrale Ori-
entierungspunkte der nationalen Entwicklung angese-
hen werden, oder bestimmte negative oder traumati-
sche Erfahrungen der Vergangenheit als Kontrast zur
Gegenwart und zu ihrer Rechtfertigung dienen.
II. Historisches Gedächtnis ist auf spezifische Ereignisse
in der Vergangenheit, weniger „Geschichte“ in ihrer
vollumfänglichen Komplexität und Vielschichtigkeit
fokussiert, wodurch die Zugänglichkeit für ein breite-
res Publikum erst ermöglicht, zugleich aber die Kom-
plexität von nationaler Geschichte nachhaltig redu-
ziert und diese essentialisiert wird.
III. Damit zusammenhängend tendiert historisches Gedächt-
nis dazu, die eigene Geschichte zu überhöhen und einer
Mythenbildung Vorschub zu leisten, mittels derer die
Vergangenheit einer Nation zu einem quasi-sakralen
Objekt wird.
Bereits auf nationaler Ebene gestaltet sich historische
Gedächtnisbildung aufgrund des fortdauernden Beste-
hens vielfältiger kultureller, sozialer oder bildungsbezoge-
ner gesellschaftlicher Differenzen, die oft nur durch die
Rhetorik von „Gemeinschaft“ und der „einen Nation“
verdeckt werden, als keine einfache Aufgabe. In einem
supranationalen Kontext wie dem europäischen erweist
sich die Wahrnehmung der Vergangenheit umso hetero-
gener, und die Schwierigkeiten eines kollektiven Gedächt-
nisses oder auch nur der Bestimmung gemeinsamer histo-
rischer Wendepunkte vervielfältigen sich.
Angesichts dessen bieten sich grundsätzlich drei Alter-
nativen für eine europäische Erinnerungspolitik an:
I. Anerkennung der Verschiedenheit und Parallelität
nationaler Gedächtniskulturen gemäß dem Motto
der Europäischen Union, „In Vielfalt geeint“, ohne
weitergehende Ambition einer originär europäischen
Erinnerungskultur;
Als schwierig erweist sich bis heute der Umgang mit Europas kolonialer Vergangenheit, hier eine Darstellung, die spanische Conquistadoren unter Führung
von Hernando Cortes (1485–1547) beim Angriff auf Eingeborene in Mexiko zeigt.
Foto: ullstein bild/Heritage Images/Ann Ronan Picture