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Von der Perestroika zur Katastroika, Teil 2

Einsichten und Perspektiven 2 | 16

einen Schlag. Zeitungen und Zeitschriften sowie Fernseh-

und Rundfunksendungen fanden rasanten Absatz und

Zuspruch, weil sich in diesen medialen Echokammern

gesellschaftlicher Unmut lautstark zum Ausdruck bringen

konnte. Der enorme Widerhall der kritischen Berichter-

stattung belegte, wie groß das gesellschaftliche Bedürfnis

nach leidenschaftlichen Debatten und Dialog, nach Mei-

nungsvielfalt und neuen Ausdrucksformen gewesen war. 

5

Immer wieder war es Gorbatschow mit seinem libera-

len Naturell, der trotz seiner wiederholten Warnungen vor

überzogener Stimmungsmache die schützende Hand über

die vorpreschenden Kultur- und Medienmacher hielt. Die

Kritik an den bestehenden Verhältnissen passte gut in

Gorbatschows politisches Kalkül, um mit dem Rückhalt

einer unzufriedenen und ungeduldigen Bevölkerung seine

Reformpolitik legitimieren und sie gegen den Widerstand

der konservativen Kräfte im Parteistaat durchsetzen zu

können. Über diese politische Machtlogik hinaus glaubte

der letzte kommunistische Träumer im Kreml in seinem

naiven Idealismus fest daran, dass die Wahrheit selbster-

klärend sei und sich im offenen Meinungsaustausch die

Menschen von der Überlegenheit des Sozialismus über-

zeugen ließen. Deshalb zielte Glasnost darauf, „die Men-

schen vom geistigen Joch zu befreien“ und ihnen „ihre

Selbstachtung zurückzugeben“. Durch die neue „Luft der

Freiheit“ ergäben sich – so Gorbatschow – „weite Hori-

zonte des Denkens, die echter Volksinitiative stets den

Weg bahnen“. Glasnost hatte nicht nur eine Überzeu-

gungs-, sondern auch eine Mobilisierungsfunktion, um

die Menschen gesellschaftlich aktiver zu machen und so

soziale Kräfte für die Perestroika freizusetzen. Mit Glas-

nost versprach Gorbatschow, „das Volk wirklich in alle

Belange der staatlichen Leitung einzubeziehen.“ Erstmals

fühlten sich viele Sowjetbürger von Staat und Partei in

ihren Anliegen wirklich ernstgenommen. 

6

Der kulturelle Aufbruch und die Demontage der

Gegenwart

Tatsächlich ging mit Glasnost ein kräftiger Ruck durch die

Gesellschaft. In kaum einer anderen Phase der Sowjetge-

schichte gab es so einen Ausbruch von kultureller Kreativität

und Dynamik. Die sowjetische Kultur erlebte im In- und

5 Paul Roth: Glasnost und Medienpolitik unter Gorbatschow, Bonn 1990;

Silvia von Steinsdorff: Rußland auf dem Weg zur Meinungsfreiheit. Die

Pluralisierung der russischen Presse zwischen 1985 und 1993, Hamburg

1994; Monika Müller: Zwischen Zäsur und Zensur. Das sowjetische Fern-

sehen unter Gorbatschow, Wiesbaden 2001.

6 Gorbatschow (wie Anm. 2), S. 17, 19 u. 28.

Ausland einen Boom; sie schien das in kurzer Zeit nachzu-

holen, was vorher wegen der Zensur zurückgehalten wer-

den musste. Die Grenzen des Sagbaren und Darstellbaren

erweiterten sich in einer zuvor kaum vorstellbaren Weise. 

7

Neben dem gesellschaftskritischen Perestroika-Kino

erregte vor allem die Sowjetliteratur besonderes Aufsehen.

Zum einen wurden verbotene Werke wie Boris Paster-

naks „Doktor Schiwago“ und Alexander Solschenizyns

„Archipel GULag“ endlich auch in der Sowjetunion in

Millionenauflage gedruckt. Zum anderen machten junge

Schriftsteller wie Vladimir Sorokin und Viktor Erofeev

mit experimentierfreudigen Werken auf sich aufmerksam

und wurden damit kulturelle Exportschlager. 

8

Glasnost schuf ein kulturelles Universum, in dem

Lebensverhältnisse des „realexistierenden Sozialismus“ auf

eindrucksvolle Weise neu kodiert und verhandelt wurden.

Eine Flut von Enthüllungen brach über das Land herein;

die Radikalkritik an den bestehenden Verhältnissen traf

das Lebensgefühl vieler Sowjetbürger. Explosive Themen

waren insbesondere die massiven Umweltzerstörungen

7 Karen Laß: Vom Tauwetter zur Perestrojka. Kulturpolitik in der Sowjetunion

(1953–1991), Köln/Weimar/Wien 2002, S. 377–396; Birgit Menzel: Bürger-

krieg um Wort. Die russische Literaturkritik der Perestrojka, Rostock 2001.

8 Reinhard Lauer: Geschichte der russischen Literatur. Von 1700 bis zur Ge-

genwart, München 2000, S. 841–881.

Der Schriftsteller Alexander Solschenizyn, Köln 1974

Foto: ullstein bild/Pictures from history