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Von der Perestroika zur Katastroika, Teil 2
Einsichten und Perspektiven 2 | 16
die richtige Wahrheit? Früher hast du morgens die
Prawda
gelesen und wusstest Bescheid. Hast alles verstanden.“
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Mit der Verkündigung von Glasnost hatte Gorbatschow
die Informationskontrolle und die Deutungshoheit der Par-
tei aufgegeben und durch hitzige Debatten ein gesellschaft-
liches Reizklima geschaffen. Das stieß keineswegs überall
auf Zuspruch. ImMärz 1988 erschien unter demTitel „Ich
kann meine Prinzipien nicht aufgeben“ der aufsehenerre-
gende Leserbrief der Leningrader Geschichtsdozentin Nina
Andreeva.
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Die aufgebrachte Verfasserin bezichtigte darin
die Presse, siebzig Jahre Sozialismus grundsätzlich in Frage
zu stellen, und forderte, ungeachtet aller Verfehlungen
müsse die Sowjetgeschichte positiv geschildert werden, um
das Entstehen eines bedrohlichen Machtvakuum zu verhin-
dern. Frech bezeichnete Andreeva Gorbatschows Perestro-
ika sogar als „linksliberalen Intelligenzlersozialismus“.
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Diese erste zusammenhängende Glasnost-Kritik nutz-
ten konservative Parteikreise als Warnschuss, um Gorba-
tschow die Risiken seiner Politik aufzuzeigen. Doch die-
ser ließ sich von diesen Grabenkämpfen nicht beirren. Er
erweiterte sogar noch einmal den Raum für Kritik, sodass
sich Glasnost imVerlauf des Jahres 1989 zu einer „kommu-
nikativen“ und „ideologischen Revolution“
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entwickelte.
Im Sommer 1990 wurden schließlich die Einführung der
Presse- und Religionsfreiheit sowie die Rehabilitation von
Millionen Opfern des Stalinismus gesetzlich verankert.
Erst im Zuge seiner „Wende nach rechts“
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gegen Ende
des Jahres 1990 legte der Kremlchef bei Glasnost wieder
den politischen Rückwärtsgang ein, um einige besonders
kritische Medien stärker zu kontrollieren. Doch Glasnost
war längst zum Selbstläufer geworden.
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Der Preis der Offenheit: Legitimations- und
Orientierungsverluste
Die politisch unabhängige und wachsame Öffentlichkeit
erwies sich als „späte Geburt ohne Gnade“.
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Zu Beginn
der Glasnost hatte Gorbatschow vollmundig prokla-
miert, dass nichts stärker sei als die Kraft der öffentlichen
21 Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des
Sozialismus, Bonn 2013, S. 11 f.
22 In deutscher Übersetzung abgedruckt in Simon (wie Anm. 10), S. 241–246.
23 György Dalos: Gorbatschow. Mensch und Macht, München 2011, S. 170–175.
24 Kuhr-Korolev (wie Anm. 9), S. 96; Aron (wie Anm. 11), S. 21.
25 Archie Brown: Der Gorbatschow-Faktor. Wandel einer Großmacht, Frank-
furt 2000, S. 441–445.
26 Pekka Roisko: Gralshüter eines untergehenden Systems. Zensur der Massen-
medien in der UdSSR 1981–1991, Köln/Weimar/Wien 2015, S. 310–336.
27 Huber (wie Anm. 3), S. 98.
Meinung.
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Als sich mit Perestroika die Situation noch
weiter verschlechterte, wirkten sich die sozialpsycholo-
gischen Folgen der Glasnost aber immer verheerender
aus. Die neue Offenheit vermittelte mit ihrem Trommel-
feuer negativer Nachrichten die Vorstellung einer offenen
Sowjetgesellschaft, die allen Schicksalsschlägen schutzlos
ausgeliefert sei – immerfort Skandal und Alarm, niemals
Entwarnung. Das so entstehende Unheilszenario verdun-
kelte das politische Klima; in einer Kultur der Empörung
und des Zorns zersetzte die Spirale des Misstrauens zuneh-
mend die Institutionen des Moskauer Parteistaats.
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Das 1954 vor dem Zentralen Pavillion Nr. 1 der VDNCh (der Ausstellung der
Errungenschaften der Volkswirtschaft) errichtete Lenindenkmal von P. P.
Jazyno, Aufnahme aus dem Jahr 2010
Foto: ullstein bild/Elizaveta Becker
Auch Gorbatschows verzweifelter Rückgriff auf Lenin
schuf keine neue Legitimationsgrundlage mehr, denn die
kritische Geschichtsdiskussion blieb nicht bei den Verbre-
chen Stalins stehen, sondern thematisierte auch die vielen
Verfehlungen Lenins – dem großen politischen Vorbild
Gorbatschows – und legte die zahlreichen Geburtsfehler
der Sowjetunion offen. Während die Sowjetpropaganda
unbeirrt den Mythos der Revolution zelebrierte, sang die
populäre Leningrader Rockgruppe DDT in ihrem Hit
„Revolution“ schon im April 1987 frustriert davon, dass
28 Michail Gorbatschow: Perestroika. Die zweite russische Revolution. Eine
neue Politik für Europa und die Welt, München
2
1989, S. 81 u. 92 f.
29 Klaus Gestwa: Sicherheit in der Sowjetunion 1988/89. Perestrojka als
missglückter Tanz auf dem zivilisatorischen Vulkan, in: Matthias Stadel-
mann/Lilia Antipow (Hg.): Schlüsseljahre. Zentrale Konstellationen der
mittel- und osteuropäischen Geschichte. Festschrift für Helmut Altrichter
zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2011, S. 449–467.