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Das britische EU-Referendum
Einsichten und Perspektiven 2 | 16
Der Weg zum zweiten Referendum: Die Regierung
Cameron im Spannungsfeld zwischen wachsender
Europaskepsis und EU-Krisensymptomen
Die Veränderungen in der internen politischen Dynamik
der EU unter den Bedingungen der globalen Finanz-
krise und der nachfolgenden Krise in der Eurozone trug
maßgeblich dazu bei, dass Großbritannien unter der
Regierung Cameron zunehmend in den Sog wachsender
Europaskepsis geriet. David Cameron selbst und die Mit-
glieder seiner Regierung verfielen in ihrer Europapolitik
wieder in den traditionellen Reflex der Forderung nach
Abgrenzung gegenüber der sich unter Führung Deutsch-
lands vertiefenden politischen Koordination in der Euro-
zone. Cameron nahm im Wahlkampf 2010 eine deutliche
europaskeptische Haltung ein. Das Wahlprogramm der
Konservativen kritisierte die Regierung Brown dafür, dass
sie den Vertrag von Lissabon ratifiziert habe, ohne zuvor
die britische Öffentlichkeit in einem Referendum zu kon-
sultieren. Auf der Basis des Wahlprogramms führte die
Regierung Cameron folglich ein sogenanntes
„Referendum
Lock“
ein. Hierbei wurde das Gesetz zum
European Com-
munities Act
aus dem Jahre 1972 so geändert, dass es alle
zukünftigen Regierungen dazu verpflichtet, bei grundle-
genden EU-Vertragsänderungen ein Referendum abzu-
halten.
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Cameron kam nach der Regierungsübernahme
in der Koalition mit den Liberaldemokraten zunehmend
unter Druck aus seiner eigenen Partei und den Medien,
ein öffentliches Referendum zur EU-Mitgliedschaft abzu-
halten. Offiziell wurden die Forderungen mit der Vertie-
fung der politischen Zusammenarbeit im Rahmen neuer
Koordinationsmechanismen in der Eurozone und in der
Steuerung des EU-Binnenmarktes begründet. Nachdem
Cameron 2011 durch sein Veto verhindert hatte, dass
der europäische Fiskalpakt, der die Einführung einer
Schuldenbremse und die verstärkte Kontrolle nationaler
Budgets durch die Europäische Kommission beinhaltet,
bindend in die Vertragsstruktur der EU integriert werden
konnte, forderten konservative Europaskeptiker und vor
allem die UKIP die Neuverhandlung der Bedingungen für
die britische EU-Mitgliedschaft. Cameron reagierte auf
die innerparteiliche und öffentliche Kritik, wie auch die
wachsende Zustimmung für UKIP in den Wahlumfragen,
mit der Ankündigung der Neuverhandlung der britischen
Mitgliedschaft und der Abhaltung eines Referendums
nach der Unterhauswahl 2015. In seiner mit Spannung
29 Conservative Party: Invitation to join the government of Britain. The Con-
servative Manifesto 2010, S. 113, https://www.conservatives.com/~/media/
Files/Manifesto2010 [Stand: 13.06.2016].
erwarteten
Bloomberg
-Rede am 23. Januar 2013 wurde
Cameron wenig konkret bezüglich der Forderungen
nach der Neuverhandlung der britischen Mitgliedschaft.
Der Hauptgrund, sich auf die Durchführung des Refe-
rendums nach der Unterhauswahl 2015 festzulegen, lag
im zunehmenden innenpolitischen Druck, vor allem der
wachsenden Zustimmung für die politischen Positionen
von UKIP. Die von Nigel Farage geführte Partei hat sich
seit der globalen Finanzkrise vom politischen Außensei-
ter zu einer zentralen politischen Kraft entwickelt, die die
öffentliche Debatte über die Europäische Union in Groß-
britannien medienwirksam negativ beeinflusst.
Der Parteivorsitzende Farage, der kurz nach der Brexit-
Entscheidung den Vorsitz der UKIP-Partei niederlegte,
favorisierte den kompromisslosen Austritt Großbritanni-
ens aus der EU. Er betonte dabei den Verlust der briti-
schen Souveränität in der EU, vor allem im Hinblick auf
die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die es seiner Ansicht nach
dem Land auch außerhalb des Schengen-Raums unmög-
lich macht, Zuwanderung effektiv zu begrenzen. Farage
thematisierte seit der Ankündigung des Referendums vor
allem die Auswirkungen der Zuwanderung aus den ost-
europäischen EU-Mitgliedstaaten, die er vornehmlich als
„Sozialstaatstourismus“ klassifizierte. Cameron griff die-
ses Schlüsselthema ebenfalls offensiv auf, um UKIP den
Wind aus den Segeln zu nehmen. Er machte die Begren-
zung der Möglichkeit für Arbeitnehmer aus anderen EU-
Staaten deshalb auch zu einer der zentralen Forderungen
seiner Neuverhandlung der Mitgliedschaft. Insgesamt
hatte der Premier die Festlegung konkreter Forderungen
We want our country back!-
Großkampagne der UKIP gegen den Verbleib
Großbritanniens in der EU
Foto: ullstein bild – Reuters/NEIL HALL