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Ägypten – Diktatur reloaded?
Einsichten und Perspektiven 2 | 16
Dass die Ägypter den Sturz des Mubarak-Regimes entge-
gen aller Erwartungen und trotz der brutalen Härte seiner
Reaktion aus eigener Kraft wahr gemacht hatten, sorgte für
eine Aufbruchsstimmung, wie sie das Land seit Jahrzehn-
ten nicht mehr erlebt hatte. Auch infolge der Unruhen
völlig entvölkerte Touristenattraktionen wie die Pyrami-
den von Gizeh konnten dieser zunächst nichts anhaben.
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Selbst Mohammad Abd al-Latif Mohammad, ein Familien-
vater und ehemals stolzer Besitzer eines kleinen Ladens
in der Nähe des
Tahrir
-Platzes, der Kunden und Umsatz
infolge der Straßensperrung im Zuge der Demonstratio-
nen verlor und sich daher auf Kairos Straßen als Schuh-
putzer verdingen musste, sagte: „Die Revolution ist das
Beste, was uns jemals passiert ist.“
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Entfernung der Herrscherikone, Alexandria, 25. Januar 2011
Foto: ullstein bild/Reuters/Stringer/Egypt
27 Eine Bestandsaufnahme der Auswirkungen der Revolution auf den ägyp-
tischen Tourismus im Sommer 2011 liefert Pia Dangelmayer: Warten auf
Karl-Heinz, in: Tahrir (wie Anm. 15), S. 15ff.
28 Vgl. Milz (wie Anm. 15), S. 13.
Von „islamischer Demokratie“ zurück in die Militär-
diktatur
Der Wunsch nach Rechtsstaatlichkeit und Demokratie,
der von den Demonstranten formuliert wurde, hängt eng
mit den Erfahrungen der Ägypterinnen und Ägypter mit
dem Gegenmodell der Diktatur zusammen. Wie genau
eine Staatsform, in der die Bürger des Landes die Politik
bestimmen und nicht unterdrückt werden, in Ägypten
aussehen könnte und sollte – dazu gab es ganz verschiedene
Vorstellungen. Die Muslimbruderschaft beispielsweise, in
ihrem Ursprungsland Ägypten zwar nicht legal operierend,
doch aber gewissermaßen toleriert,
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war gesellschaftlich
breit verankert und hatte ihre sehr eigenen Vorstellun-
gen von „Demokratie“. Die Muslimbruderschaft ist eine
der einflussreichsten Bewegungen des politischen Islam
im Nahen Osten und Ägypten ist ihr Geburtsland; 1928
wurde die Organisation hier formal gegründet. Die tune-
sische
Ennahda
und die palästinensische
Hamas
gelten als
Ableger der Muslimbrüder – die Bewegung ist hinsichtlich
Radikalität und politischem Anspruch also sehr differen-
ziert zu bewerten. Die ägyptischen Muslimbrüder galten
als relativ moderat; nicht wenige Beobachter waren von
den starken Islamisierungsbestrebungen nach der Macht-
übernahme überrascht. Die Bruderschaft spielte auf dem
Platz der Befreiung 2011 eine zentrale Rolle, war sie doch
von allen Oppositionskräften am besten organisiert und
damit insbesondere gegenüber den säkularen Kräften im
Vorteil.
Die ägyptische Gesellschaft ist stark religiös geprägt.
Wer einmal in das völlig verständnislose Gesicht eines
koptischen Christen geblickt hat, weil er als Antwort auf
die Frage nach dem Glauben zu erklären versucht, was ein
Agnostiker ist, weiß, dass das nicht nur für die Muslime
gilt, die etwa 90 Prozent der Bevölkerung ausmachen.
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Die Möglichkeit, nicht an Gott zu glauben oder der
transzendenten Welt mit einer gewissen Gleichgültigkeit
gegenüberzustehen, liegt für die meisten Ägypten unab-
hängig von ihrer Konfession völlig außerhalb der Vorstel-
lungskraft. Wie diese Religiosität gelebt wird, ist dagegen
29 So gelang es den Muslimbrüdern beispielsweise bei den Parlamentswah-
len im Jahr 2005 als „Unabhängige“ anzutreten und 20 Prozent der Stim-
men zu erreichen. Die Wahlen waren Teil einer „pluralistischen Fassade“
des Regimes, die bei den Wahlen 2010 allzu offensichtlich wurde: Die Re-
gierungspartei NDP erhielt mehr als 97 Prozent der Stimmen, was selbst
Regierungsanhänger als Wahlfälschung bezeichneten. Vgl. dazu Perthes
(wie Anm. 4), S. 51ff.
30 Schätzung aus dem Jahr 2012. Vgl. den Eintrag für Ägypten in: The World
Fact Book, online:
https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/eg.html [Stand: 16.06.2016].