Hitlers
Mein Kampf
– Perspektiven für die historisch-politische Bildungsarbeit
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 16
Thesen zum Umgang mit
Mein Kampf
in der historisch-
politischen Bildung
1.
Mein Kampf
ist eine zentrale Quelle für die Geschichte
des Nationalsozialismus. Daher ist eine Berücksichti-
gung im Geschichtsunterricht und in der außerschu-
lischen Bildungsarbeit naheliegend, ja unverzichtbar.
Sie eröffnet vielfältige Zugänge zur Zeit des National-
sozialismus, sei es durch die Biografie Hitlers und den
damit verknüpften „Führer“-Mythos, sei es durch die
Stilisierung des Buches zum „Herrschaftssymbol“ und
zum „Herrschaftsinstrument“ oder durch die darin ent-
haltene NS-Ideologie mit ihren fatalen Konsequenzen.
2.
Mein Kampf
ist eine so komplexe Quelle, dass eine
umfassende Thematisierung der verschiedenen Kon-
texte – von der Entstehung bis zur Rezeption, von
der Quellenkunde bis zur Aufarbeitung – in der
historisch-politischen Bildungsarbeit weder sinnvoll
noch möglich ist. Allerdings kann sie gerade des-
wegen in Lernprozesse verschiedenster Art Eingang
finden: von der beiläufigen Erwähnung bis hin zur
eingehenden Analyse. Dazu bedarf es geeigneter Lern
arrangements für die jeweilige Lerngruppe.
3.
Mein Kampf
wird, wie die Durchsicht der Lehrpläne
und der Schulbücher zeigt, vor allem als zentrale
Schrift der NS-Ideologie betrachtet. Neben diesem
sicher wichtigen Inhaltskontext können und sollten
auch weitere Zusammenhänge zumindest ansatz-
weise deutlich werden, etwa der quellenkundliche,
der Publikations- und Rezeptionskontext.
4.
Mein Kampf
sollte als – natürlich kritisch zu befra-
gende – Quelle ernst genommen und nicht vorab
pejorativ beurteilt werden. Mangelnde Originali-
tät, krause Argumentation und schlechter Stil sagen
nichts über den Quellenwert aus.
5.
Mein Kampf
ist nach wie vor präsent. Die Diskussionen
angesichts des Auslaufens des Urheberschutzes und das
große Interesse an der kritischen Edition des Instituts
für Zeitgeschichte offenbaren die Nachwirkung von
Hitlers Hetzschrift. Daher kann und sollte
Mein Kampf
nicht nur historisch betrachtet werden, sondern auch als
Phänomen der bundesrepublikanischen Geschichtskul-
tur. Der Umgang mit diesem Buch nach 1945 offenbart
vieles über den Staat, in dem die Jugendlichen leben.
6.
Mein Kampf
kann daher sehr gut auch über den
Aufarbeitungskontext, also über Phänomene der
Geschichtskultur, erschlossen werden. Dieser bietet –
nicht zuletzt wegen seiner ästhetischen Dimension –
beträchtliche Lernchancen, verbindet sich doch hier
der vergangenheitsorientierte Quellenbezug des Lern-
gegenstands mit dem gegenwartsorientierten Lebens-
weltbezug der Schülerinnen und Schüler.
7.
Mein Kampf
sollte in seinem aktuellen propagan-
distischen Gehalt nicht überschätzt werden. In der
rechtsradikalen Szene genießt Hitlers Buch aus sym-
bolischen Gründen zwar große Wertschätzung, spielt
aber für die ideologisch-politische Formierung wohl
keine entscheidende Rolle. Dies hängt damit zusam-
men, dass die weitschweifigen Ausführungen Hitlers
zum einen schwer konsumierbar und zum anderen
sehr zeitverhaftet, mithin kaum mehr auf die aktuelle
Situation anwendbar sind. Hier spielen wohl andere
ideologische Ressourcen eine wichtigere Rolle, so dass
die Auseinandersetzung mit
Mein Kampf
im Rahmen
der Prävention gegen Rechtsextremismus zwar not-
wendig, aber nicht entscheidend zu sein scheint.
8.
Mein Kampf
enthält gleichwohl Elemente, die nicht
verharmlost werden dürfen: Das biologistisch-rassis-
tische Weltbild, das strikte Freund-Feind-Denken,
der unbedingte Vernichtungswille und die men-
schenverachtende Sprache, die im Buch auf fast jeder
Seite begegnen, sind zeitunabhängige Deutungsmus-
ter, die wieder aktualisiert werden könnten.
9.
Mein Kampf
sollte im Hinblick auf die historisch-
politische Bildung der Jugendlichen am Ende der
Beschäftigung als das bezeichnet werden, was es ist:
eine menschenverachtende Hetzschrift. Allerdings:
Um ihnen eine eigenständige, unvoreingenommene
Urteilsbildung zu ermöglichen, ist es einerseits not-
wendig, sich mit Wertungen zurückzuhalten. Ande-
rerseits kann die Weltanschauung Hitlers nicht zum
Objekt subjektiver Geschmacksurteile gemacht wer-
den. Das Dilemma, einerseits die Freiheit histori-
scher Urteilsbildung zu wahren und andererseits der
Notwendigkeit demokratischer Bewusstseinsbildung
gerecht zu werden, lässt sich nicht auflösen, ja es stellt
sich bei der Beschäftigung mit Hitlers
Mein Kampf
verschärft.
10.
Mein Kampf
sollte nicht mystifiziert werden. Ein offe-
ner Umgang mit demText und mit den Erwartungen
und Einstellungen der Jugendlichen gegenüber dem
Text dient dem Erkenntnisgewinn und ermöglicht
erst eine kritische Auseinandersetzung. Ziel bleibt die
Entmystifizierung von
Mein Kampf
durch historisch-
politische Aufklärung.