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aviso 4 | 2014
Renaissance des zeichnens?
Colloquium
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Text:
Barbara Lutz-Sterzenbach
Steht die Liebe
am Anfang der Kunst? Sicher
ist, dass das Zeichnen seinen Ursprung nahm in
der Dunkelheit eines Raumes, mit dem Blick auf
den Schatten des Körpers imLicht des Feuers. Der
Römer Plinius erzählt diese Geschichte der Ent­
deckung des Zeichnens (bzw. der plastischen Kunst)
als Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen: Der
junge Mann muss in die Ferne, sein nachgezeich-
neter Schattenriss an der Wand, Vorlage für eine
Tonplastik, bleibt dem liebenden Mädchen als Zei-
chen seiner Anwesenheit. Gyges, so die Variante der
Geschichte, betrachtet in dem von Feuer erhellten
Raum seinen Schatten, nimmt in einer spontanen
Regung ein Stück Kohle in die Hand und zieht
die Linien seines eigenen Schattenrisses nach. Aus
der Flüchtigkeit des Augenblicks, der vorüber ist,
sobald das Feuer verlischt, wird ein fixierter Anblick,
eine Geste der Anwesenheit: eine Zeichnung. Bei
Giorgio Vasari, dem großen Kunsttheoretiker der
Renaissance bildet diese Geschichte des Selbstauf-
zeichnens den Anfang aller Kunst: der Zeichnende
als Beobachter, als Liebender sowie als Schöpfer
und Gestalter von Welt.
Ein abenteuerliches Mäandern
Die Liebe ist also nicht alleine Impuls dafür zu zeich-
nen und hier soll auch weniger von der Renaissance
als einer großen Epoche des Zeichnens die Rede
sein, sondern von der
Renaissance der Zeichnung
.
Wie ist es zu erklären, dass nach Dekaden des Ver-
schwindens aus Kunst und Kunstgeschichte, aus den
Medien und der Wissenschaft nun sukzessive das
Medium Zeichnung wieder sichtbarer wird? Dass
es diskutiert wird, beforscht und erörtert aus ver-
schiedensten Perspektiven? Dass sich die Bildwissen-
schaft in interdisziplinären Forschungsverbünden
auf die Suche nach der Bedeutung der Zeichnung für
das Denken und denWissenserwerbmacht und dies
nicht nur im Feld der Kunst, sondern auch in den
Wissenschaften? Dass Symposien und Kongresse
seit Beginn des Jahrtausends wieder das Zeichnen
in den Fokus der Betrachtung nehmen, zunächst
noch zaghaft, doch in den letzten Jahren immer
nachdrücklicher? Die Frage nach dem »Zeichnen
als Erkenntnis«, – um ein erstes Beispiel zu nen-
nen – führte im Oktober 2013 Künstlerinnen und
Künstler, Vertreter der Bildwissenschaft, der Kunst-
pädagogik und der Neurowissenschaft zu einem
Symposion an der Akademie der Bildenden Künste
inMünchen zusammen. Dabei stand nicht nur die
Frage imRaum, inwieweit das Zeichnen beanspru-
chen kann, eine eigene, Neues generierende Er-
kenntnisform zu sein, sondern auch, wie Vermitt-
lungssituationen des Zeichnens Erkenntnis fördernd
gestaltet werden können. Die Aula des traditions-
reichen Gebäudes war drei Tage bis auf den letz-
ten Platz besetzt. Intensiv aufmerksame Teilneh-
mer folgten den kenntnisreichen Ausführungen
des Bildwissenschaftlers Horst Bredekamp in sei-
nem Vortrag »Über historische Kritzeleien – zum
Verfertigen der Gedanken imZeichnen«, lauschten
den Reflexionen der Künstlerin NanneMeyer zum
zeichnerischenHandeln als Erkenntnis. Wie keine
andere versteht es die Künstlerin, die Erfahrung des
Zeichnens inWorte zu übersetzen und das komplexe
Zusammenspiel zwischen Handeln und Denken,
zwischen Sehen und Bewegung im Zeichnen diffe-
renziert zu benennen. »Hintertür, Spielraum und
unerforschtes Gebiet – Zeichnen als Erkenntnis«
betitelte sie ihren Vortrag und öffnete in ihm eine
Welt des Zeichnens, in welcher Zeichnen lustvoll
und intensiv betrieben wird, ein »abenteuerliches
Mäandern« bzw. ein »abenteuerlicher Prozess«
unterwegs in einemGebiet, das immer wieder neu
erschlossen wird. Seit ihrem Kunststudium in den
70er Jahren, in denen sie als Zeichnerin völlig aus
der Reihe tanzte, arbeitet Meyer ausschließlichmit
demMedium Zeichnung. Beglückt äußert sie sich
heute über das neue Interesse amZeichnen. Neben
großformatigen Kreide-Zeichnungen faszinieren
ihre kleinen zeichnerischen Notizen, die sie konti-
nuierlich in festgebundenen Bücher, so genannten
»Blindbänden«, fixiert. Vielfältigste Ideen und Ge-
danken sind hier mit Leichtigkeit und tiefgründi-
gemund hintergründigemWitz visualisiert, immer
überraschend und anregend. Zeichnen wird von der
Künstlerin als Agieren in einem Spiel- und Denk-
raum charakterisiert, »als ein Anhalten und Inne-
halten und ein konzentriertes Wenden von Dingen,
die sie durchdacht, durchlaufen oder erinnert« habe
oder an denen sie gerade arbeite, so die Künstlerin.
Kreidespuren auf Hausmauern lesen
Das Plenum bestaunt nach diesen und weiteren
dichten künstlerischen Vorträgen u. a. von Jorinde
Voigt und Franz Erhard Walther sowie bildwissen-
schaftlichen Erkenntnissen zumZeichnen neugierig
und amüsiert die unglaubliche Sammlung fotogra-
fisch dokumentierter »Zeichnungen«, die das fran-
zösische Künstlerduo Michel Dector und Michel
Dupuy präsentiert. »Les dessins des autres« – »Die
Zeichnungen der anderen« stellen sich als mehr
oder weniger beabsichtigte, zufällige zeichnerische
Spuren heraus, die die Künstler in ihren städtischen
Erkundungen überall entdecken: Kreidespuren auf
Hausmauern, Gummispuren von Fahrrädern auf
demAsphalt, Hundepisse, die – man glaubt es nur,
wennman es gesehen hat – die Form eines Hundes
linke Seite
Zeichnende Hand.
Symposion »Zeichnen als
Erkenntnis«, Akademie der Bilden­
den Künste München.
10.-12. Oktober 2013.
oben
Nanne Meyer, o. T., 2005,
Collage, Blei- und Farbstift auf
Papier, 29,7 x 21 cm.
Foto: Ansgar Schnurr | Mit freundlicher Genehmigung von Nanne Meyer, Coutesy Galerie Marlene Frei Zürich
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