aviso 4 | 2014
Renaissance des zeichnens?
Colloquium
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Professor Dr. Raimund Wünsche
war von 1994 bis 2011 leitender Direk-
tor der Glyptothek und der Staatlichen Antikensammlungen in München.
nung als zweitrangig erscheinen lässt. Das gilt noch mehr, wenn
Jugendliche oder Kinder zeichnen. Man ist immer überrascht, wie still
es in den Räumen ist, selbst wenn eine ganze Schulklasse von Kindern
zeichnet.
Natürlich lädt auch
das Ambiente dazu ein, sich ›künstlerisch‹ zu betä-
tigen – zu zeichnen oder auch zu fotografieren. Die nach der teilweisen
Kriegszerstörung einfach gestalteten, lichtdurchfluteten Räume wirken
wie große Ateliers. Von den Skulpturen sind die ehemaligen barocken
oder klassizistischen Ergänzungen der fehlenden Teile abgenommen:
Die Ästhetik unserer Zeit empfindet das Fragmentarische der antiken
Skulptur nicht als Makel, sondern als Merkmal ihrer Authentizität und
manchen Torso als dynamischer und ansprechender als eine vollstän-
dige Figur. Fern all der üblichen Museumstradition ist auch die Prä-
sentation der Skulpturen. Sie stehen frei im Raum. Man kann sie um-
schreiten, von allen Seiten bewundern. Und sie stehen auf niedrigen
Sockeln, was zum Zeichnen ideal ist. Entsprechend der Jahres- und
Tageszeit und im Wechsel des Himmels ändert sich das Licht, das auf
die Skulpturen fällt, und so ergeben sich immer wieder neue, reizvolle
Ansichten. Und natürlich tragen auch der stimmungsvolle Hof und die
einladende Cafeteria dazu ein, einige Stunden geruhsam zeichnend in
der Glyptothek zu verbringen.
»Der sicherste, ja der einzige sichere Stützpunkt höherer Kunstbildung«
war für Leo von Klenze die antike Skulptur – also seine Glyptothek.
Das glaubt heute keiner mehr. Aber auch heute gilt: Die Glyptothek
ist eine ideale »Schule der Zeichner«. Das liegt nicht nur daran, dass
die Statuen ewig ›stillhalten‹. Wichtiger ist, dass in den Skulpturen die
Natur, meist ist es einMenschenbild, schon von dem antiken Bildhauer
künstlerisch erfasst wurde und er das für ihn Wesentliche bzw. Indivi-
duelle herausgearbeitet hat. Dies ist viel leichter zu sehen und zu zeich-
nen, als wenn man sich dies selbst an einemAktmodell erarbeiten wollte.
Die Glyptothek zeigt Skulpturen aus einem Zeitraum von über tausend
Jahren. Deren Formensprache ist so vielfältig und ausdrucksstark, dass
sie jedem, der sich um ihre Erfassung bemüht – gleichgültig begabt
oder unbegabt, ob jung oder alt – ein weites Feld zur Entfaltung eige-
ner schöpferischer Möglichkeiten gibt.
Wie immer man
zum Zeichnen von Antiken stehen mag, eines ist sicher:
Keine auch noch so intensive Erklärung, so schlau kann der Archäologe
oder irgendein Kunstexperte nie sein, gibt einen so tiefen und bleiben-
den Eindruck in die Formensprache eines Bildwerkes wie der Versuch,
es zeichnerisch zu erfassen, sich mit dem Stift in der Hand quasi ›fest-
zusehen‹.
Fotos: Renate Kühling, Nina Ratuschny (Studentin Fotodesign HAW München).