aviso 4 | 2014
Renaissance des zeichnens?
Colloquium
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M
itten im schnelllebigen digitalen Zeitalter, in der
Ära von Youtube und iTunes, von Streamingdiens-
ten und Downloadplattformen ist die Zeichnung
und in bemerkenswerter Gleichzeitigkeit auch die Sehnsucht
nach epischen Erzählformen wieder da. Vor allem die literari-
sche Öffentlichkeit nimmt verwundert wahr, dass junge (und
weniger junge) Zeichner heute wieder anfangen, Geschichten
in Bildern erzählen. Geschichten, die in Form von seitenstar-
ken grafischen Romanen oder Graphic Novels ganze Regale
in den Buchhandlungen der Großstädte füllen. Das Feuilleton
unterstützt enthusiastisch diesen Trend und die Verlage rea
gieren und agieren mit gut durchdachtemMarketing. Denn
es ist ein Markt, der bedient werden muss, ein Markt, auf
den, was Erzählweisen und illustrative Handschriften angeht,
ganz unterschiedlich geartete Neuerscheinungen drängen.
Eine der interessantesten aktuellen Publikationen ist »Vas-
mers Bruder« (Carlsen), eine Kooperation des Illustrators
David von Bassewitz mit dem Szenaristen Peer Meter. In
Texte:
Dieter Jüdt
einem subtil-raffinerten Mix aus realistischem Zeichenstil,
Frottagetechnik und Malerei wird auf 180 Seiten der rätsel-
hafte Fall des Serienmörders Karl Denke aufgerollt, und die
Autoren nutzen dabei eindrucksvoll die bildkompositorischen
und dramaturgischen Mittel des Films. Nicht umsonst hat
David von Bassewitz vor seinem Studium der Illustration an
der Fachhochschule Würzburg das Fach Filmwissenschaft
an der Universität Erlangen studiert. Weniger vom Film, als
von Illustrationsstilen der Nachkriegsära ist die nostalgische
Handschrift von Barbara Yelin geprägt. In Blei- und Bunt-
stifttechnik erzählt die Wahlmünchnerin in ihrem neuesten
Projekt »Irmina« eine (wahre) Geschichte über Wegschauen,
Mitläufertum und Vorteilsnahme im nationalsozialistischen
Deutschland – und über ein Einzelschicksal mit enormen
Widersprüchen, dessen Schlusspunkt bis in die 80er Jahre
reicht. Die 280seitige Graphic Novel wird noch im Herbst
2014 bei Reprodukt erscheinen. Ganz nahe am Begriff
»Novel«, am Roman, ist dagegen Ute Helmbolds Literatur
adaption von Theodor Storms »Der Schimmelreiter« (Edi-
»Auf der Suche
nach dem grafischen
Sound«
Zum aktuellen Boom der Graphic Novel
rechts
Ute Helmbold, aus: »Der Schimmelreiter«,
Edition Eichthal 2013.