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aviso 4 | 2014
Renaissance des zeichnens?
Colloquium
Campbell (Zeichungen) spüren auf den 600 Seiten ihres
voluminösen Bilderromans den Bluttaten Jack the Rippers
nach, kreuzen die Pfade von William Blake, Marx & Engels
oder der Freimaurer-Loge und begreifen London dabei als
»Big Beast«, in dessen Innerem sich alte Mythen, Moderne
und britische Subkultur schillernd überlagern. Zu erwähnen
wäre ganz sicher auch Jirõ Taniguchis wunderbarer Bilder-
roman »Vertraute Fremde« – der eigentlich ein Manga ist.
Gelungene und auch grafisch faszinierende Graphic Novels
von deutschen Zeichnern, wie etwa Christian Gornys (leider
vergriffener) »Haarmann«, Martin tom Diecks »Monsieur
Lingus‘ Wissen über Wasser«, oder »Nichts von Bedeutung«
vonMarkus Huber (dessen Short Story »Comeback« eine der
schönsten und berührendsten Comicerzählungen überhaupt
ist) machen vielleicht auch deutlich, wo eine Grenzziehung
zum Comic gezogen werden könnte.
Der »grafische Sound«
Es geht nämlich weniger darum, seitenstark Biografisch/
Autobiografisches auszubreiten oder Politisch/Zeithistori-
sches mit routiniertemArtwork zu bebildern. Vielmehr geht
es um ein funktionierendes und homogenes Ineinander der
erzählerischen Mittel, um den »grafischen Sound«. Denn
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... Aber es
verfolgte mich...
... wie ein
Albtraum.
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der Zeichner bebildert nicht einfach einen vorge-
gebenen Text, sondern reagiert mit seinem indi-
viduellen Artwork – mit der Linie der Zeichnung,
Farbkontrasten, Rhythmisierung in Bildkompo-
sition, Seitenlayout und Buchdramaturgie – auf
Inhalte, Sprachmelodie und -rhythmus. Das unter
scheidet die künstlerische Graphic Novel auch von
vielen Publikationen, die zwar das verkaufsför
dernde Label »Graphic Novel« tragen, aber eher
gut gemachte und umfangreiche Comicerzählungen
(oder teilweise sogar »nur« Cartoon) sind und bei
deren Lektüre einen häufig das Gefühl beschleicht,
ihr Artwork könnte jederzeit durch die Arbeiten
eines anderen Zeichners ersetzt werden (was im
Superheldengenre oder in den kommerziell erfolg-
reichen Serien der französischen Bandes Dessines
durchaus übliche Praxis ist).
Verbesserte
Ausbildungsbedingungen
Das größte Manko der deutschen Comicszene war
jedoch immer schon der Mangel an guten Auto-
ren. Peer Meter (der mit Christian Gorny, David
von Bassewitz oder Barbara Yelin zusammenge-
arbeitet hat) ist tatsächlich der einzige Szenarist
deutscher Sprache, der Skripte und Dialoge für
Comics und Graphic Novels liefert. Vielleicht ist
das auch ein Grund für die Schwemme von biogra-
fischen Stoffen im Output hiesiger Verlage. Ganz
eindeutig gebessert haben sich aber die Bedingun-
gen für das MediumBildgeschichte imRahmen der
Hochschulausbildung. Während noch vor Jahren
die Dozenten in den Bereichen Zeichnung oder
Illustration Comics und Graphic Novels eher rat-
los gegenüberstanden, diskutieren jetzt Professo-
ren wie Martin tom Dieck an der Folkwang Uni-
versität der Künste Essen, Ute Helmbold an der
HBK Brauschweig, Marcus Herrenberger an der
Fachhochschule Münster oder Anke Feuchten-
berger an der HAW Hamburg mit ihren Studen-
ten Arbeitsprozesse und gestalterischen Strategien
der sequentiellen Kunst. Das an der Hochschule
Augsburg von Mike Loos initiierte studentische
Comicprojekt »Strichnin« wurde sogar für den
Max- und Moritzpreis nominiert.
Fehlende Förderstrukturen
So entstehen heute viele der bei Verlagen publi-
zierten Graphic Novels als Bachelor- oder Mas-
terarbeiten. Nach dem Verlassen der Hochschule,
links
Hans Hillmann, aus »Fliegenpapier«,
Zweitausendeins 1982.
daneben
Barbara Yelin, aus: »Irmina«, Reprodukt 2014.
daneben
David von Bassewitz, aus: »Vasmers Bruder«,
Carlsen 2014.