aviso - Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst in Bayern - page 30

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aviso 4 | 2014
Renaissance des zeichnens?
Colloquium
Die Bewegung der Urban Sketchers
Text:
Elisabeth Donoughue
»Ich zeichne, um mich zu erinnern, wo ich mich befinde…, einen Ort
für immer aufzunehmen, damit ich in ein paar Jahren eine bildliche
Erinnerung daran habe, wo (und vielleicht auch wer) ich war.« Pete
Scully ist Urban Sketcher. Weltweit zeichnen Enthusiasten wie er die
Städte, in denen sie leben oder in die sie reisen. Ihre Skizzen stellen
sie auf eine gemeinsame Website
. Einmal im
Jahr treffen sich die Urban Sketchers zu einem Kongress, wo sie sich
austauschen und einander Workshops anbieten. Gegründet hat diese
Gemeinschaft Gabriel Campanario, der nach seinem fünften Umzug in
Seattle landete und im Zeichnen ein Medium fand, das ihm half, eine
Beziehung zu seiner neuen Umgebung aufzubauen: »Eine Stadt zeich-
nen, heißt nicht nur, sie auf Papier zu bannen. Es geht darum, sie ken-
nenzulernen, sie zu spüren, sie sich zu eigen zu machen.« Viele Urban
Sketchers beschreiben ähnliche Phänomene. Zeichnen ermöglicht es, so
Cathy Johnson, Excelsior Springs, Missouri, die »Umgebung zu erfahren
und auf sie in einer Weise zu reagieren, die ohne Stift in der Hand nicht
möglich wäre«. »Das Zeichnen hilft mir, mich mit einem Ort vertraut
zumachen, einementale Karte davon zu erstellen«, soMatt Jones, San Fran-
cisco, Kalifornien, und Virginia Hein, Los Angeles, Kalifornien, geht noch
einen Schritt weiter: »Ich verliebe mich in Orte, indem ich sie zeichne«.
Gabriel Campanario stellte bald fest, dass er nicht alleine war. Viele Men-
schen zeichnen ihre Städte, und viele Zeichner betreiben Skizzen-Blogs.
Campanario wollte alle auf einer Website versammeln. Skizzenblätter
hängen Zeichnende gewöhnlich nicht auf, es sei denn, die Seiten werden
aus dem Buch getrennt. Der Scan holt die Zeichnung aus dem Privaten
und Verborgenen hervor, die nun auf dem Bild-
schirm und für alleWelt sichtbar wird. Das private
Medium des Skizzenbuchs findet im Internet eine
ganz neue Öffentlichkeit. Dabei bleibt die ganz
eigene Authentizität und Schönheit der Zeich-
nung sichtbar. Omar Jaramillo, der dieWebsite der
Urban Sketchers in Deutschland betreut, meint:
»Urban Sketching ist eine analoge Tätigkeit, die
durch die digitale Welt lebt.«
Die Veröffentlichung im Internet hat noch einen
Vorteil. Sie ermöglicht einen unaufwändigen und
ergiebigen Austausch von Zeichenerfahrungen. Ur-
ban Sketchers kommentieren ihre Zeichnungenmit
genauen Angaben zu Format, Dauer undMaterial.
So entsteht ein enormer Wissensfundus für eine
Gemeinschaft, in der jeder vom anderen lernen
kann. Im inzwischen erschienenen Buch „Urban
Sketching“ lassen sich solche Kommentare nach-
lesen: „Ich lehnte an einer Wand links vonmir und
beschloss, von ihr nichts als eine einzige Linie zu
zeichnen. Ich vergaß auch alle Details, die Leute, die
Beschriftung, die Strukturen, all die Geräusche der
Stadt…“ (Richard Camara, Lissabon) oder konkre-
te Ratschläge wie »Mit warmemWasser, das man
immer wieder austauschen muss, damit es nicht
gefriert, ist es möglich, bei unter 0 Grad mit Aqua-
rell zu malen.« (Miriam Benmoussa, München).
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