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aviso 3 | 2016
ANTHROPOZÄN - DAS ZEITALTER DER MENSCHEN
COLLOQUIUM
Das Anthropozän
Neue Narrative zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
Text:
Helmuth Trischler
ALS PAUL CRUTZEN
und Eugene F. Stoermer im Jahr 2000 in einem Newsletter der internationalen
Geosphären- und Biosphärenforschung erstmals den Begriff des Anthropozäns in die Debatte brachten,
konnten sie nicht ahnen, welche rasante Karriere das Anthropozän absolvieren würde. Hätten die beiden
Wissenschaftler es geahnt, hätten sie ihren Vorschlag nicht in einem internen Newsletter, sondern in
einer renommierten Zeitschrift veröffentlicht und damit in die globale wissenschaftliche Gemeinschaft
hineingetragen. Das sollte Crutzen zwei Jahre später nachholen, als er in einem Artikel zur Geologie
der Menschheit in der Zeitschrift »Nature« knapp und präzise seine These darlegte: Der Mensch sei in
einem so hohen starken Ausmaß zu einem geologischen Faktor geworden, dass es einer neuen erdwis-
senschaftlichen Epoche bedürfe, um dieser Entwicklung gerecht zu werden, und dieses neue Zeitalter
des Menschen, das Anthropozän, habe mit der Industriellen Revolution im späten 18. Jahrhundert
begonnen. Die Menschheit werde für Jahrtausende die vorherrschende Kraft in der Umwelt werden.
Der Limnologe Stoermer hatte den Begriff des Anthropozäns informell bereits in den 1980er Jah-
ren benutzt. Es blieb aber dem Atmosphärenchemiker Crutzen vorbehalten, ihn mit dem vollen
Gewicht seiner Reputation als Entdecker des Ozonlochs und Nobelpreisträger zu popularisieren. Crutzen,
»Mister Anthropozän«, hatte im Jahr 2000 auf einer Tagung im mexikanischen Cuernavaca, auf der
immer wieder das Holozän als die gegenwärtige geologische Epoche erwähnt worden war, die Geduld
verloren und spontan geäußert, dass wir bereits im Anthropozän leben würden. Seither hat er die
Geschichte im Heureka-Narrativ eines spontanen Geistesblitzes mehrfach erzählt und damit einen
attraktiven Gründungsmythos des Begriffs geschaffen.
ALS GEOLOGISCHER TERMINUS
hat er freilich schon eine lange Vorgeschichte, die bis in das späte
18. Jahrhundert zurückreicht. Der französische Naturforscher Georges-Louis de Buffon entwickelte
1775 den Gegensatz von originaler und vom Menschen zivilisierter Natur und beobachtete, dass die
gesamte Erde bereits Spuren menschlichen Einflusses trug. Im frühen 20. Jahrhundert häuften sich
bereits die Verweise auf den Menschen als »eine bedeutende geologische Kraft«, die der russische Geo-
chemiker Vladimir I. Vernadski 1913 hervorhob, und sein Lehrer A.P. Pawlow sprach von einer »an-
thropogenen Ära«. Nur zwei Jahre später veröffentlichte der junge deutsche Wissenschaftler Ernst
Fischer einen Aufsatz mit dem Titel »Der Mensch als geologischer Faktor«, und ein 1922 in London
von R.L. Sherlock publiziertes Buch hieß fast wortgleich »Man as a geological agent«. Im späten
20. Jahrhundert schließlich nahmen zahlreiche Forscher den Begriff des Anthropozäns mehr undmehr
vorweg, besonders signifikant der Biologe Hubert Markl, der in den 1980er Jahren das »Anthropozoi
kum« angebrochen sah.
Heute hat die Diskussion um das Zeitalter des Menschen den Rahmen der Bio- und Geowissenschaf-
ten längst gesprengt und ist, wie manche kritisieren, zu einer wissenschaftlichen Popkultur geworden.
Viele Disziplinen führen mittlerweile intensive Debatten um das Anthropozän, von der Anthropo
logie zur Theologie, von den Kunstwissenschaften zu den Literaturwissenschaften. Zudem hat das
Anthropozän den Raumder Wissenschaft verlassen und wird auch in der Öffentlichkeit breit diskutiert.