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aviso 3 | 2016
ANTHROPOZÄN - DAS ZEITALTER DER MENSCHEN
COLLOQUIUM
»Willkommen im Anthropozän. Unsere Verantwortung für
die Zukunft der Erde«, die weltweit erste große Ausstellung
zum Thema, die das Deutsche Museum und das Rachel Car-
son Center for Environment and Society gemeinsam realisiert
haben, ist nur ein Beispiel dafür, wie weit der Begriff heute
in der Öffentlichkeit verbreitet ist.
Geologische Narrative
Als Hubert Markl das Anthropozoikum einzuführen versuchte,
meinte er, keine Datierungsschwierigkeiten erkennen zu kön-
nen. Die neue Ära, die sich insbesondere auch durch einen
massiven Verlust an Biodiversität auszeichne, habe bereits
begonnen. Der weitsichtige Biologe
undWissenschaftsmanager sollte sich
allerdings täuschen, denn so sehr sich
die Proponenten des Anthropozäns
darin einig sind, dass die Menschheit
mit ihrer hochentwickelten Technik
der dominante geowissenschaftliche
Akteur sei und für lange Zeit bleiben
werde, so wenig Einigkeit herrscht in
der Frage, wo der Beginn der neuen
Ära anzusetzen ist. Für Crutzen und
Stoermer war um die Jahrtausend-
wende noch unstrittig, dass das An-
thropozänmit der Industrialisierung –
konkret mit der Wattschen Dampf-
maschine – im späten 18. Jahrhundert
begonnen habe. Mittlerweile liegen
zahlreiche Vorschläge vor. Sie liegen
zwischen den Jahren 1610 und 1964.
DAS JAHR 1610
markiert dabei einen
besonders auffälligen Rückgang der
Kohlendioxidkonzentration in der Erd-
atmosphäre, wie die Auswertung von
aus dem antarktischen Eis gefrästen Bohrkernen belegt. Die
Ursache ist ein verspäteter Effekt der Entdeckung Amerikas.
Die Kolonisierung der Neuen Welt führte zum Tod von etwa
50Millionen Ureinwohnern durch Kriege und eingeschleppte
Krankheiten. Durch den drastischen Bevölkerungseinbruch
fielen ausgedehnte Anbauflächen brach, die sich der Urwald
zurückeroberte. Dieser Vegetationsschub fing enorme Men-
gen Kohlendioxid aus der Atmosphäre ein. Im Jahr 1610
erreichte dieser Effekt einenmarkantenHöhepunkt, der geo-
logisch nachweisbar ist. Kurzum: Das frühe 17. Jahrhundert
war der letzte deutliche Rücksetzer bei der Konzentration von
Treibhausgasen in der Atmosphäre, gleichsamder letzte kühle
Moment der Erde vor demBeginn der langfristigen globalen
Erwärmung, die seither das Anthropozän prägt.
Das Jahr 1964 verweist auf den unter dem Schock der Kuba-
Krise von den beiden Supermächten und Großbritannien 1963
geschlossenen Vertrag, auf Atomtests in der Erdatmosphäre,
imWeltraumund unter Wasser künftig zu verzichten. Der ra-
dioaktive Fallout reicherte sich nicht nur in der Atmosphäre,
sondern auch in den Knochen und Zähnen von Säugetieren
und Menschen an. Zwischen 1945 und 1963 Geborene wei-
sen eine menschengemachte chemische Signatur auf, die sich
ab 1964 infolge des nuklearen Testbann-Vertrags wieder ab-
schwächte. Diese Knochen und Zähne werden sich in einer
fernen Zukunft in einer anthropozänen Sedimentschicht
ablagern, welche die beiden Jahrzehnte nach dem Zweiten
Weltkrieg deutlich von demDavor und Danach unterscheiden.
SEIT EINIGEN JAHREN
ist eine Arbeitsgruppe der Internatio-
nalen Kommission für Stratigraphie mit der Aufgabe betraut,
all diese Vorschläge auf ihre wissenschaftliche Stichhaltigkeit
zu prüfen und einen plausiblen Datierungsentwurf vorzule-
gen. Die Arbeitsgruppe hat angekün-
digt, zum Jahreswechsel 2016/17 einen
Bericht vorzulegen, der die zentralen
geowissenschaftlichen Fragen des
Anthropozäns beantwortet: In wel-
chem Umfang werden menschliche
Aktivitäten als messbare Signale in
geologischen Schichten aufgezeich-
net, wie deutlich unterscheidet sich
das Anthropozän weltweit von der sta-
bileren Holozän-Epoche der letzten
11700 Jahre, welche die Entwicklung
der menschlichen Zivilisation über-
haupt erst erlaubte, und wo liegt die
zeitliche Untergrenze des Anthropo-
zäns?
Der Bericht wird keine Überraschung
enthalten, denn die Arbeitsgruppe hat
ihre Hauptergebnisse jüngst bereits
imWissenschaftsjournal Science ver-
öffentlicht: Das Anthropozän unter-
scheide sich deutlich vomHolozän. Die
untersuchten stratigraphischen Signa-
turen seien entweder neu oder lägen zumindest außerhalb der
Variabilität des Holozäns, und alle Veränderungen verliefen
beschleunigt. Der Beginn des Anthropozäns liege in der Mitte
des 20. Jahrhunderts. Die Arbeitsgruppe schließt damit an
die These von der »Großen Beschleunigung« an. Sie besagt,
dass im Verlauf der 1950er Jahre die Kurven für zahllose Pa-
rameter von einem linearen in ein exponentielles Wachstum
übergingen. Diese charakteristische Kurve in Gestalt eines
Hockeyschlägers lässt sich auf der globalen Ebene für den Ver-
brauch von Ressourcen wie Erdöl, Wasser und Kunstdünger
ebenso nachweisen wie für den Bau von Staudämmen, Auto-
mobilen, Telefonen oder McDonalds-Restaurants und auch
für wirtschaftliche Indikatoren wie den Anstieg des interna-
tionalen Tourismus und des Bruttosozialprodukts.
Kulturelle Narrative
Das laute mediale Echo, das dem Science-Artikel der Arbeits-
gruppe nachhallte, unterstreicht, dass die Debatte um das
Anthropozän längst mitten in der Öffentlichkeit angekom-
oben
Ingenieurmodell der »Clock of the Long Now«.