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aviso 3 | 2016

ANTHROPOZÄN - DAS ZEITALTER DER MENSCHEN

COLLOQUIUM

men ist. Noch vor der Printausgabe erschienen Online-Beiträge etwa

imGuardian, in der Daily Mail, der Washington Post, der Frankfurter

Allgemeinen Zeitung, im Züricher Tagesanzeiger, imNew Scientist und

im Scientific American, und noch am Tag der Printausgabe berichte-

ten die wichtigstenMedien weltweit darüber, dass die Wissenschaftler-

gemeinde eine neue erdwissenschaftliche Epoche vorgeschlagen habe.

Das Anthropozän bewegt die Medien und wird zu einer kulturell ver-

handelten Angelegenheit, welche die Grenzen zwischen Wissenschaft

und Gesellschaft sprengt.

Genau darin liegt die zentrale Bedeutung des Anthropozäns als kul-

turelles Konzept. Es lässt etablierte Grenzlinien auf vielen Ebenen un-

scharf werden. Insbesondere aber eröffnet es die Möglichkeit, sich von

überkommenen Dichotomien wie Natur und Kultur zu lösen und das

Verhältnis von Umwelt und Gesellschaft als unauflösliche Verknüpfung

neu zu bestimmen.

Die etablierte Kategorien und Grenzen infrage stellende Qualität des

Anthropozäns zeigt sich bereits in der Arbeitsgruppe selbst. Denn inte­

ressanterweise sind an deren fachwissenschaftlichen Debatten nicht nur

Geowissenschaftler, Erdsystemforscher oder Biologen beteiligt. Unter

ihren 37Mitgliedern finden sich auch Experten aus

den Sozial- und Geisteswissenschaften wie Krimi-

nologie, Anthropologie und Geschichte.

Deutlicher noch als in den Geowissenschaftenmel-

den sich in den Geistes- und Kulturwissenschaf-

ten kritische Stimmen zu Wort, die den Sinn des

Anthropozäns bezweifeln. Während die einen sei-

nen analytischen Mehrwert gegenüber etablier-

ten Konzepten wie etwa dem der Nachhaltigkeit

infrage stellen, das Verhältnis von Umwelt und

Gesellschaft neu zu bestimmen, hegen andere eine

noch tiefer gehende Befürchtung. Die Benennung

einer neuen geowissenschaftlichen Epoche nach

demMenschen würde dem grassierenden Anthropo-

zentrismus Vorschub leisten und die menschliche

Achtung des moralischen Eigenwerts der Natur

weiter schwinden lassen.

Um keine Zweifel aufkommen zu lassen, das An-

thropozänkonzept braucht kaum etwas dringender

als eine konstruktiv-kritische Debatte um seine

Leistungsfähigkeit. Der pauschalisierende Vor-

wurf einer Verstärkung des Anthropozentrismus

aber verkennt den normativen Fluchtpunkt des

Konzepts in fundamentaler Weise. Im Anthropo-

zän geht es gerade nicht um die Bekräftigung der

Dichotomie von Natur und Kultur, die sich imVer-

lauf der Moderne herausgebildet hat, sondern um

eine kritische Infragestellung des daraus resultie-

renden Anthropozentrismus.

Solchermaßen verstanden eröffnet das Konzept

letztlich einen veränderten Blick auf denMenschen

und seine vermeintliche Einzigartigkeit auf der

Erde. Der Mensch wird, in den Worten der post-

humanistischen Vordenkerin Ursula Heise, zum

Bestandteil eines Netzwerks verteilter Handlungs-

träger, das Tiere und Pflanzen ebenso einschließt

wie chemische Substanzen und technische Objekte.

Das Anthropozän-Konzept in posthumanistischer

Perspektive verstanden, bedeutet, uns bewusst zu

werden, dass wir in dieses Netzwerk unentrinnbar

eingebunden sind zu jedemMoment und in all un-

seren Handlungen.

Neue Temporalitäten

Nicht von ungefähr wird das Anthropozän in den

Geschichtswissenschaften besonders intensiv dis-

kutiert. Als Experten für die Periodisierung der

Menschheitsgeschichte sind die Historikerinnen

und Historiker von der Anthropozänthese ganz

unmittelbar betroffen, denn in den Debatten um

den Beginn des Anthropozäns werden letztlich

zentrale historische Fragen verhandelt. Sich in die

Diskussion um das Anthropozän als kulturelles

oben und rechte Seite

Die »Große Beschleunigung« in den Eingriffen des Menschen

in die Erde und ihre dramatischen Folgen setzt auf allen Ebenen um die Mitte

des 20. Jahrhunderts ein. Schaubilder nach Will Steffen et al.: »The trajectory of the

Anthropocene: The Great Acceleration« (2015).

© Deutsches Museum