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Von der Perestroika zur Katastroika, Teil 2
Einsichten und Perspektiven 2 | 16
Weil mit Perestroika undGlasnost der sozialistische Unions-
staat bei seinen Bürgern zunehmend an Ansehen verloren
hatte, war seine Auflösung weder ein plötzlich hereinbre-
chende Katastrophe noch ein Vernichtungsakt einer Ver-
schwörergruppe, sondern das Ergebnis politischer Selbst-
bestimmungsakte. Niemand brauchte die Sowjetunion
am Ende mehr.
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Selbst bei den Russen, dem sowjetischen
„Reichsvolk“, hatte sich die Meinung durchgesetzt, dass es
angesichts der gegen Moskau gerichteten Ressentiments
unter dem Aspekt der nationalen Selbstfindung besser sei,
auf das nunmehr als Last empfundene Sowjetimperium
zu verzichten und sich auf sich selbst zu konzentrieren.
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Die Zukunft Russlands sahen darum viele Ende 1991 in
der neuen Russischen Föderation, zu der drei Viertel des
Territoriums und knapp die Hälfte der Bevölkerung der
vormaligen Sowjetunion gehörten.
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Am 21. Dezember 1991 unterzeichneten die Führer der
vormaligen Sowjetrepubliken in der kasachischen Haupt-
80 Aron (wie Anm. 11), S. 32 f.
81 In seinem letzten Werk wies Gorbatschow darauf hin, dass im Dezember
1991 auch diejenigen, die später der Sowjetunion nachtrauern sollten,
damals im russischen Parlament „stehend und mit Hurra-Rufen für das
Auseinanderbrechen der Sowjetunion gestimmt haben.“ Vgl. Michail Gor-
batschow: Das neue Russland. Der Umbruch und das System Putin, Köln
2015, S. 182.
82 Franz Preissler: Die russischen Nationalisten und die Auflösung der Sow-
jetunion, in: Malek/Schor-Tschudnowskaja (wie Anm. 49), S. 99–113;
John B. Dunlop: The Rise of Russia and the Fall of the Soviet Empire,
Princeton 1993.
stadt Alma Ata eine Auflösungserklärung. Sie traf wichtige
Nachfolgeregelungen und schrieb auf der Grundlage der
bestehenden Grenzziehungen die territoriale Integrität
der neu gegründeten Staaten fest.
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Am Abend des 25.
Dezember 1991 holte man im Moskauer Kreml schließ-
lich die rote Flagge mit Hammer und Sichel ein und hisste
an ihrer Stelle die weiß-blau-rote Flagge Russlands.
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Als neuer Machthaber im Kreml brachte Jelzin den
damaligen antiimperialen Zeitgeist auf den Punkt, als
er Anfang 1992 der Weltöffentlichkeit erklärte, Russ-
land werde „niemals mehr ein Imperium“ sein, sondern
begnüge sich als demokratischer Staat fortan mit dem
Status einer seinen europäischen Nachbarn gegenüber
„freundlichen Großmacht“. Diese „romantische Phase“
der russischen Außenpolitik dauerte allerdings nur bis
zur Mitte der 1990er Jahre. Enttäuscht von den westli-
chen Demokratie- und Wohlstandsversprechen, die sich
in Russland einfach nicht einstellen wollten, bildete sich
auf der Suche nach nationaler Identität und neuer welt-
politischer Geltung ein „patriotischer Konsens“ heraus.
Großmachtideen kehrten damit in den Kreml zurück
und riefen grassierende imperiale Phantomschmerzen
hervor, deren Linderung die russische Politik auch heute
noch beschäftigt und sie immer wieder zu hochriskan-
ten außenpolitischen Manövern verleitet.
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Schon Mitte
der 1990er Jahre merkte der damalige ukrainische Parla-
mentspräsident Alexandr Moroz zur um sich greifenden
Sowjetnostalgie kritisch an: „Wer den Zerfall der ehe-
maligen Sowjetunion nicht bedauert, hat kein Herz, wer
aber die Meinung vertritt, sie könne wiederhergestellt
werden, hat kein Hirn.“
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Der Deutungsstreit um das Gorbatschow-Paradox
Auch mit dem Nachwissen von heute und trotz einer
mittlerweile 25-jährigen intensiven Forschungsdiskus-
sion bleibt das Mysterium des rasanten Kollapses des
Sowjetimperiums weiterhin ungeklärt. Je nach ideologi-
schem Standpunkt entnehmen Historiker, Journalisten
und Politiker der sowjetischen Zerfallsgeschichte jeweils
83 Carmen Schmidt: Juristische Aspekte des Auflösungsprozesses der UdSSR, in:
Malek/Schor-Tschudnowskaja (wie Anm. 49), S. 287–307, hier S. 302–307.
84 Zu den letzten Monaten der Sowjetunion vgl. Brown (wie Anm. 25),
S. 480–498; Martin Malek: Von der Reform zum Zerfall – Anmerkungen
zu den Ursachen des Endes der UdSSR, in: ders./Schor-Tschudnowskaja
(wie Anm. 49), S. 27–68, hier S. 63–68.
85 Margarete Mommsen: Wer herrscht in Russland. Der Kreml und die Schat-
ten der Macht, München 2003, S. 136–196, Zitate auf S. 142 f.
86 Zit. n. György Dalos: Lebt wohl, Genossen! Der Untergang des sowjeti-
schen Imperiums, Bonn 2011, S. 156.
Boris Jelzin spricht, auf einem Panzer stehend, zur Moskauer Bevölkerung
gegen das „Staatskomitee für den Ausnahmezustand“, während Gorba-
tschow auf der Krim unter „Hausarrest“ steht.
Foto: picture alliance/dpa