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Von der Perestroika zur Katastroika, Teil 2

Einsichten und Perspektiven 2 | 16

Kreml bei der Lösung der nationalen Frage als eigentlicher

Hauptakteur frei handeln könnte und bei seiner Reform-

politik auf die Anliegen der Sowjetrepubliken keine grö-

ßere Rücksicht nehmen. Als Estland im November 1988

als erste Sowjetrepublik seine Souveränität erklärte und

den Vorrang der Republiks- vor den Unionsgesetzen ver-

kündete, reagierte Gorbatschow darum barsch und unge-

halten. Er sprach den Verantwortlichen in Estland jegliches

Verantwortungsgefühl ab und bezeichnete sie als nationa-

listische und asoziale Heckenschützen, die „an der Umge-

staltung schmarotzen“. 

71

Mit dieser brüsken Ablehnung stieß Gorbatschow die

moderaten politischen Kräfte in den Sowjetrepubliken vor

den Kopf und versperrte sich damit den Weg, gemeinsam

mit ihnen das Verhältnis zwischen den Sowjetrepubliken

und dem Moskauer Unionszentrum durch den Aufbau

realföderativer oder sogar konföderativer Strukturen neu

zu regeln. Das Vertrauen in die nationalitätenpolitische

Reformkompetenz des Moskauer Zentrums sank weiter,

als bewaffnete Verbände des Innenministeriums im April

1989 eine friedliche Demonstration für die Unabhängig-

keit Georgiens in Tiflis gewaltsam auflösten und dabei 20

Menschen töteten. Obwohl Gorbatschow zur Zeit der

Ausschreitungen zu politischen Gesprächen in London

gewesen war, hatte er nun Blut an den Händen. 

72

Seine Popularität in den nichtrussischen Peripherien litt

ferner unter dem miserablen Katastrophenmanagement,

nachdem im Dezember 1988 ein schweres Erdbeben

große Landstriche Armeniens verwüstet hatte. Durch lan-

desweite Solidaritätsaktionen wollte Gorbatschow noch

einmal den Zusammenhalt der Union betonen. Doch

die mangelhaft koordinierten Hilfsaktionen demonstrier-

ten nur die vielen Organisationsdefizite des sowjetischen

Parteistaats und die politische Ohnmacht des Moskauer

Zentrums. 

73

Dadurch gewannen die Desintegrationsprozesse weiter

an Dynamik; die „Souveränitätsparade“ schritt voran. Bis

Mitte 1990 waren fast alle Sowjetrepubliken dem Beispiel

Estland gefolgt und hatten die Moskauer Verfügungs- und

Entscheidungsrechte massiv eingeschränkt. Es kam zu

einem rasanten Wandel der politischen Landschaften in

71 Gorbatschow, Glasnost (wie Anm. 2), S. 75–81, Zitat S. 76. Die ethnische

Souveränitätsdeklaration findet sich in deutscher Übersetzung in Simon

(wie Anm. 10), S. 275 f.

72 Zu den Ereignissen in Tiflis vgl. die neuen interessanten Dokumente in

Karner (wie Anm. 70), S. 320–332; Brown (wie Anm. 25), S. 434–437;

Alexander Rondeli: Georgien und der Zerfall der UdSSR, in: Malek/Schor-

Tschudnowskaja (wie Anm. 49), S. 365–379.

73 Altrichter (wie Anm. 38), S. 54–59.

den nichtrussischen Peripherien, zumal es oftmals die dor-

tigen Partei- und Staatsbehörden waren, die immer souve-

ränitätsbewusster auftraten. Die nationalen Sammelbewe-

gungen integrierten alles, was sich an Unmut, Protest und

Verbitterung gegen die Sowjetordnung angestaut hatte,

und wurden damit zur Speerspitze der antisowjetischen

Mobilisierung, die rasant an gesellschaftlicher Tiefe und

politischer Dynamik gewann.

Erste Abspaltungen und letzte Rettungsversuche,

1990 und 1991

Als der Kreml im Verlauf des Jahres 1989 den Ostblock als

sozialistisches Zwangsbündnis auflöste und seinen Bünd-

nispartner zubilligte, fortan ihren eigenen Weg zu gehen,

hatte das auch massive Folgen für die innersowjetischen

Entwicklungen. Bei der nationalen Interessenbehauptung

in den baltischen Sowjetrepubliken sowie in Moldawien,

Armenien und Georgien ging es nun nicht mehr nur um

den Zugewinn an Autonomie- und Selbstbestimmungs-

rechten. Die separatistischen Kräfte gewannen die Über-

hand. Sie drängten auf die Abspaltung vom sowjetischen

Unionsstaat, um die vollständige staatliche Unabhängigkeit

zu erlangen. Aus den im Frühjahr 1990 in den Sowjet-

Staats- und Parteichef Gorbatschow besucht mit seiner Frau Raissa die

Stadt Leninakan (Gjumri), um sich ein Bild der schweren Erdbebenfolgen zu

machen, Dezember 1988.

Foto: ullstein bild/Sputnik