Table of Contents Table of Contents
Previous Page  17 / 80 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 17 / 80 Next Page
Page Background

17

Von der Perestroika zur Katastroika, Teil 2

Einsichten und Perspektiven 2 | 16

In der Ukraine forderten die Menschen endlich Aufklä-

rung über die Umstände der Zwangskollektivierung der

Landwirtschaft und die sich daran anschließende giganti-

sche Hungerkatastrophe der Jahre 1932/33, während der

drei bis vier Millionen Bürger der Sowjetukraine elendig

zu Tode gekommen waren. Rücksichtslos hatte Stalin den

Hunger in ländlichen Regionen als Waffe eingesetzt, um

den Widerstand der ukrainischen Bauern gegen seine bra-

chiale Industrialisierungs- und Kollektivierungspolitik zu

brechen. Die öffentliche Hinwendung zum nationalen

Trauma dieses Hungergenozids, des sogenannten

Holodo-

mor

, ließ viele Ukrainer auf Distanz zum Sowjetimperium

gehen und stärkte den Wunsch nach mehr Unabhängig-

keit. 

64

Als ein geschichts- und ethnopolitischer Hotspot der

besonderen Art erwies sich die Deportation ganzer Eth-

nien. Sie waren unter dem pauschalen Vorwurf, „Volks-

feinde“ zu sein und mit den Feindstaaten zu kollaborie-

ren, von 1937 bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg

durch willkürliche Beschlüsse Stalins ihrer Heimat beraubt

und nach Sibirien sowie Zentralasien verschleppt worden.

Diese großflächigen ethnischen Säuberungen führten zu

einem Massensterben ungeheuren Ausmaßes. Zu der lan-

gen Liste der deportierten Völker gehörten unter anderem

die Russlanddeutschen und die Tschetschenen.

Politisch besonders aktiv wurden mit der Perestroika

die Krimtataren. Deren Autonome Sowjetrepublik auf der

Halbinsel Krim hatte Stalin 1944 auflösen und die Krim-

tataren zusammen mit anderen dort lebenden nichtrussi-

schen Ethnien zwangsverschleppen lassen. Nach Jahrzehn-

ten der Verbannung nutzten die Krimtataren im Sommer

1987 die neu entstehende Öffentlichkeit, um mit einer

von 350.000 Personen unterschriebenen Petition, tagelan-

gen Massenprotesten auf dem Roten Platz und der Andro-

hung eines kollektiven Hungerstreiks für die Rückkehr in

ihre Heimat zu kämpfen.

Von diesem heftigen Ausbruch ethnischer Leiden-

schaften überrascht, gewährte Gorbatschow den Krim-

tataren zusätzliche finanzielle Unterstützung, damit sie

sich in ihren zentralasiatischen Deportationsorten bessere

Lebensbedingungen schaffen könnten. Doch sein Plan

ging nicht auf. Die Krimtataren praktizierten vielmehr

eine „Nationalitätenpolitik der Füße“. Entgegen der Mos-

kauer Weisungen kehrten sie eigenmächtig auf die Krim

64 Manfred Sapper u.a. (Hg.): Vernichtung durch Hunger. Der Holodomor in

der Ukraine und der UdSSR (= Themenheft von OSTEUROPA, 12/2004),

Berlin 2004; Andreas Kappeler: Kleine Geschichte der Ukraine, München

4

2012, S. 246–254.

zurück. 1990 lebten dort schon wieder 20.000 Krimtata-

ren. Sie stellten die sowjetischen Behörden vor vollendete

Tatsachen und machten so deutlich, dass dem Moskauer

Parteistaat das politische Management interethnischer

Konfliktlagen zunehmend entglitt. 

65

Bergkarabach und der Flächenbrand horizontaler

interethnischer Konflikte

Neben den vertikalen Konfliktbeziehungen zwischen

der Moskauer Zentralmacht und den auf mehr Selbst-

bestimmung drängenden Sowjetrepubliken gab es auch

zwischen einzelnen Nationalitäten zahlreiche horizontale

Probleme, die sich zu politischen Minenfeldern entwi-

ckelten, auf denen der Kreml zunehmend an Gestal-

tungskraft, Autorität und Ansehen verlor. Im Zuge der

Territorialisierung des Ethnischen hatten die Moskauer

Nationalitätenpolitiker viele Sowjetvölker mit dem wirk-

samsten Potential für emotionale Bindung und nationale

Identifikation ausgestattet: mit autonomen nationalen

Territorien. Bei der Abgrenzung ethnisch gemischter

Bevölkerungen in separate Gebietskörperschaften kam es

in den 1920er und 1930er Jahren aber zu willkürlichen

Grenzziehungen. Sie trennten oftmals zusammenhän-

gende Siedlungsgebiete und schufen ethnische Enklaven.

Um deren umstrittene administrative Zugehörigkeiten

entbrannten unter Gorbatschow zahlreiche gewaltsam

ausgetragene Kämpfe.

Zur ersten Eskalation kam es im Verlauf des Jahres

1988 in einem entlegenen Winkel des Kaukasus. Die

armenische Bevölkerungsmehrheit der dortigen Region

Bergkarabach erklärte, nicht mehr der Sowjetrepub-

lik Aserbaidschan angehören zu wollen. Mit explizitem

Bezug auf die politische Perestroika forderte sie ihr Recht

auf Selbstbestimmung ein. Daraus entwickelte sich zwi-

schen Armenien und Aserbaidschan ein heftiger Konflikt

mit wiederholten Pogromen und ethnischen Säuberun-

gen. Bei der Eingrenzung dieser bürgerkriegsähnlichen

Gewaltexplosion versagte das Moskauer Unionszentrum.

Als im Januar 1990 der Kreml schließlich versuchte,

durch nach Baku entsandte Armeeeinheiten wieder für

Ruhe und Ordnung im Kaukasus zu sorgen, gab es bei

den blutigen Ausschreitungen mehrere hundert Tote.

Dieser begrenzte Waffeneinsatz erwies sich als kontra-

produktiv; er heizte den Konflikt nur noch weiter an.

65 Zur Geschichte der Krimtataren vgl. Grotzky (wie Anm. 16), S. 185–188;

Brian Glyn Wiliams: The Crimean Tatars, The Diaspora Experience and the

Forging of a Nation, Leiden/Boston/Köln 2001; Paul Robert Magocsi: The

Blessed Land. Crimea and the Crimean Tatars, Toronto 2014.