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Von der Perestroika zur Katastroika, Teil 2
Einsichten und Perspektiven 2 | 16
Sowohl Armenier als auch Aserbaidschaner fühlten sich
von Moskau verraten.
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Sowjetische Panzer an der Grenze Armeniens und Nachitschewans, Januar 1990
Foto: picture alliance/dpa
Vom Bergkarabach aus sprang der Funke in der Folge-
zeit über und entfachte in weiten Teilen der Sowjetunion
einen nationalitätenpolitischen Flächenbrand. Er griff
besonders im Kaukasus und in Zentralasien um sich. Dort
war es infolge von Zwangsmigration und brisanten Grenz-
ziehungen zu einer Vielzahl von horizontalen Problemen
gekommen. Nachdem diese nicht gelöst, sondern nur
eingefroren worden waren, tauten sie 1989 im Klima von
Glasnost auf und eskalierten oftmals in Form massiver
Gewaltausbrüche, weil der sowjetische Parteistaat wegen
der Zerfallserscheinungen bei den Streitkräften und den
Truppen des Innenministeriums sein Waffenmonopol
kaum mehr aufrechterhalten konnte.
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Aus den ethno-
territorialen Konfliktfeldern speisten sich xenophobe Ver-
feindungsenergien, die das gesellschaftliche Zusammenle-
66 Thomas de Waal: Black Garden. Armenia and Azerbaijan through Peace
and War, New York 2004; Tessa Hofmann: Armenien und der Zerfall der
UdSSR, in: Malek/Schor-Tschudnowskaja (wie Anm. 49), S. 381–401; Aser
Babajew: Aserbaidschan, der Berg-Karabach-Konflikt und der sowjetische
Zerfallsprozess, in: ebd., S. 403–418.
67 Zu dieser „Kühlschranktheorie“ vgl. Ther (wie Anm. 20), S. 72 f.
ben vergifteten. Die nationalen Milieus polarisierten und
radikalisierten sich. Die so entfesselten Gewaltpotentiale
schwächten die Kohäsionskräfte und unterstrichen die
zunehmende Ohnmacht der Moskauer Zentrale, die den
interethnischen Zerwürfnissen nicht die Sprengkraft zu
nehmen vermochte.
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Die „Souveränitätsparade“ 1988 und 1989
Als im Februar 1986 der neue Kremlchef seine Perestroika
verkündete und Glasnost versprach, war er noch ganz dem
Sirenengesang vom harmonischen Zusammenleben der
sowjetischen Völkerfamilie erlegen. Für die Sowjetunion
nahm er voller Stolz in Anspruch, sie hätte das Nationa-
litätenproblem gelöst.
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Zwei Jahre später, im Juli 1988,
musste Gorbatschow seinen Vertrauten dann eingestehen,
dass er sich von der Propaganda der Völkerfreundschaft
hätte einlullen lassen. Er erklärte nun das „Anfachen des
Nationalismus“ als eines der „explosivsten Probleme“ und
bemängelte „die tiefe Verwahrlosung dieser bestehenden
Problematik und das Fehlen einer realistischen Natio-
nalitätenpolitik der Partei im Verlauf der Jahrzehnte“.
Zugleich machte er „korrupte Elemente in der Führung
einiger Republiken“ für die „sich verbreitende Praxis der
künstlichen Entfachung nationaler Gefühle“ verantwort-
lich. Auch dem Westen warf Gorbatschow vor, mit vieler-
lei Aktionen dazu beizutragen, „nationale Leidenschaften
und Differenzen“ zu entflammen.
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Diese politischen Schuldzuweisungen zeugen davon,
dass Gorbatschow die wahren Ursachen für die sich
zuspitzenden Spannungen zwischen den Sowjetrepubli-
ken und dem Moskauer Unionszentrum nicht verstanden
hatte. Die nationalitätenpolitische Situation stellte sich
damals als kompliziert und schwierig, aber keineswegs
als hoffnungslos dar. Statt vorausschauend die Initiative
zu ergreifen und den erforderlichen Wandel auf den Weg
zu bringen, entfaltete Gorbatschow auf diesem zentralen
Problemfeld des sowjetischen Scheinföderalismus zu wenig
politische Gestaltungskraft und verpasste später mit sei-
nen zögerlichen Reaktionen die geeigneten Momente, um
durch mutige Entscheidungen wieder die Kontrolle über
den Reformprozess zurückzugewinnen. Zudem beging
er den fatalen Denkfehler, weiterhin zu meinen, dass der
68 Smith (wie Anm. 54), S. 269–271; Rudolf A. Mark: Ist die UdSSR an ihren
Nationalitätenkonflikten gescheitert?, in: Malek/Schor-Tschudnowskaja
(wie Anm. 49), S. 269–286.
69 Gorbatschow (wie Anm. 28), S. 148–153.
70 Zit. n. Stefan Karner u.a. (Hg.): Der Kreml und die Wende 1989, Wien
2014, S. 189 f.