56
Ägypten – Diktatur reloaded?
Einsichten und Perspektiven 2 | 16
auf ihrer Agenda. Sie suchen nach ägyptischen Antworten
auf ägyptische Probleme.
1
Das Beispiel aus dem Fußball-
stadion veranschaulicht aber auch etwas anderes: die zer-
brechliche Hochstimmung in Ägypten im Sommer 2011,
ein paar Monate, nachdem das Volk den ungeliebten Des-
poten Mubarak erfolgreich stürzte und damit zum regi-
onsübergreifenden Vorbild eines „Arabischen Frühlings“
avancierte. Eine Hochstimmung, die – wenn niemand
weiß, wer gerade wo und wie lange noch das Sagen hat –
schnell in anarchische Aggression kippen kann, die sich
gegen tatsächlich oder vermeintlich Schwächere richtet.
Die Gefahr einer jeden Revolution.
2012 sorgte der Kairoer Club
al-Ahly
schließlich welt-
weit für Schlagzeilen: Bei einem Auswärtsspiel gegen den
Erzrivalen
al-Masry
in Port Said im Nordosten des Lan-
des kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen, bei denen
74 Menschen getötet und tausende verletzt wurden. Der
1. Februar ging als „schwarzer Tag des ägyptischen Fuß-
1 Shereen El Feki hat darüber ein kluges Buch geschrieben. Die Kanadierin
mit ägyptischen Wurzeln brach die Tabuisierung vieler gesellschaftlicher
Probleme auf und erklärt die Phänomene und Lösungsansätze fachkundig.
Irreführend ist einzig der Titel: El Feki bezieht sich nur selten auf andere
arabische Länder als Ägypten. Shereen El Feki: Sex und die Zitadelle. Lie-
besleben in der sich wandelnden arabischen Welt, München 2013.
balls“ in die Geschichte ein.
2
Dieses Ereignis rief nicht nur
die internationale Presse auf den Plan, sondern auch die
Demonstranten vom Januar 2011 wieder auf die Straße.
Jetzt forderten sie den Rücktritt der Übergangsregierung,
die nach dem Sturz Mubaraks die Staatsgeschäfte lenkte,
und lieferten sich über Tage hinweg Straßenschlachten
mit den Sicherheitskräften. Viele sahen in der Gewaltorgie
einen bewussten Einschüchterungsversuch
3
gegenüber der
Bevölkerung und insbesondere der
al-Ahly
-Jugend – denn
diese stand bei den Protesten gegen das Mubarak-Regime
in vorderster Reihe.
4
2 Nach dem überraschenden Heimsieg der Mannschaft aus Port Said stürm-
ten hunderte Fans das Fußballfeld und die gegnerische Tribüne und griffen
Spieler und Anhänger der Kairoer Mannschaft an. Mit Feuerwerkskörpern
wurden ganze Zuschauerränge in Brand gesetzt, es kam zu einer Massen-
panik. Die meisten Opfer dieses Tages waren
al-Ahly
-Fans. Sie wurden
erdrückt, erstochen, erschlagen oder gewaltsam von Tribünen gestürzt.
Die Polizei hatte das Spiel nicht abgebrochen, obwohl es bereits vor dem
Anpfiff zu Schlägereien zwischen Fans beider Mannschaften gekommen
war, die auf das Spielfeld gestürmt waren.
3 Die Ausschreitungen seien von den Behörden der inneren Sicherheit ge-
duldet, gebilligt oder sogar unterwandert worden, um Argumente für re-
pressive Maßnahmen gegen die Bevölkerung zu erhalten.
4 Perthes spricht von „einige[n] Fußballfanclubs, die mehr straßenschlacht
erfahren als politisch waren, sicher aber den gesammelten Zorn einer
marginalisierten Jugend repräsentierten.“ Volker Perthes: Der Aufstand.
Die arabische Revolution und ihre Folgen, Bonn 2011, S. 57.
Demonstrationen nach dem „schwarzen Tag des ägyptischen Fußballs“, 1. Februar 2012
Foto: picture alliance/Amr Sayed