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Über die gesellschaftliche Bedeutung des Amateurfußballs

Einsichten und Perspektiven 1 | 17

Von der „Fußlümmelei“ zur „Fußball-Monokultur“:

ein kurzer Abriss über die Geschichte des Fußballs in

Deutschland

Dass die Geschichte des Fußballs in Deutschland es wert

ist, erzählt und wissenschaftlich aufgearbeitet zu werden,

wurde einer breiteren Öffentlichkeit spätestens klar, als

bewegende Filme wie „Das Wunder von Bern“ (2003)

oder „Der ganz große Traum“ (2011), der dem deutschen

Fußballpionier Konrad Koch ein Denkmal setzte, in die

Kinos kamen.

Es war tatsächlich jener filmisch porträtierte Konrad Koch,

mit dem die Entwicklung des Fußballs in Deutschland

so richtig an Fahrt aufnahm. Koch, von 1868 bis 1911

Lehrer am Martino-Katharineum in Braunschweig, ließ

seine Schüler 1874 das vermeintlich erste an offiziellen

(englischen) Regeln orientierte Fußballspiel auf deut-

schem Boden austragen – und das in einer Zeit, in der

die deutsche Öffentlichkeit der aus England stammen-

den Sportart nahezu anarchistische Züge attestierte und

sie deswegen sehr kritisch beäugte. Im Deutschland der

Bismarck-Ära galten nämlich vielmehr Sportarten als för-

derungs- und erstrebenswert, die ein hohes Maß an Kör-

perbeherrschung erfordern, zum Beispiel das Turnen. In

der von Friedrich Ludwig Jahn („Turnvater Jahn“) popu-

lär gemachten Sportart sah man im ausgehenden 19. Jahr-

hundert ein „Symbol für Ordnung, Disziplin, Kontrolle

von Körper und Geist sowie Gehorsam und Loyalität

gegenüber dem ‚Reich‘.“ 

1

Dem Fußball traute man diese

symbolische Kraft nicht zu – im Gegenteil: Dieser Sport

sei „ein Zeichen der Wegwerfung, der Geringschätzung,

der Verachtung, des Ekels“ und die im Rahmen dieses

Sports ausgeführten Bewegungen „erniedrigt[en] den

Menschen zum Affen“, schrieb Karl Planck 1898 in seiner

berühmt gewordenen Schmähschrift „Fusslümmelei: über

Stauchballspiel und englische Krankheit“.

2

Doch trotz der Kritik aus konservativen Kreisen

begann sich die Stimmung langsam zu wandeln. Immer

mehr Deutsche entdeckten den Fußball als Freizeit- und

Sportvertreib für sich, auch weil auf dem Fußballplatz

Emotionen ausgelebt werden durften, die es im Alltag zu

unterdrücken galt.

3

Um die Jahrhundertwende kam es

schließlich zu Verbands- und Vereinsbildungen und eif-

rigen Regelwerkdiskussionen. 1900 wurde in Leipzig der

Deutsche Fußball-Bund (DFB) gegründet.

In den Anfangsjahren hatten auch die DFB-Funkti-

onäre weiterhin mit Vorbehalten zu kämpfen – sie gal-

ten gerade den vielen deutschtümelnden Reichsbürgern

immer noch als Wegbereiter des englischen „Kulturimpe-

rialismus“. Um sich dieses Vorwurfs zu erwehren, ergriff

man schon bald entsprechende Maßnahmen: Man sorgte

z.B. für die Verbannung von aus dem Englischen über-

nommenen Fußballbegriffen (z.B.

„captain“

oder

„free-

kick“),

die ihrerseits durch Wörter aus dem deutschen

Militärjargon ersetzt wurden (so wurde beispielsweise aus

dem

„captain“

der (Spiel-)„Führer“).

4

Die Rechnung ging

auf: In der Öffentlichkeit wurde der Fußball immer mehr

auch als Stifter einer deutschnationalen Identität begrif-

1 Michael Krüger: Sport, Habitus und Staatsbildung in Deutschland, in: Zi-

vilisationstheorie in der Bilanz: Beiträge zum 100. Geburtstag von Norbert

Elias, hg. v. Annette Treibel/Helmut Kuzmics/Reinhard Blomert, Wiesba-

den 2000, S. 211-220, hier S .211.

2 Karl Planck: Fusslümmelei: über Stauchballspiel und englische Krankheit,

Münster 1982 [1898], S. 6.

3 Vgl. Franz-Josef Brüggemeier: Anfänge des modernen Fußballs, in: Infor-

mationen zur politischen Bildung (2006), H. 290, S. 7–13, hier S. 11 f.

4 Vgl. Dirk Bitzer/Bernd Wilting: Stürmen für Deutschland, Frankfurt 2003,

S. 16.

Konrad Koch (1846-1911), Lehrer in Braunschweig, führte 1874 das Fußball-

spiel in Deutschland ein.

Foto: ullstein bild – AP