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„With human beings you never know“
Einsichten und Perspektiven 3 | 16
Im Rahmen dieser früheren Konflikte waren viele Tutsi nach
Uganda geflohen und hatten sich militärisch daran betei-
ligt, die dortige Diktatur Milton Obotes zu beenden. Teile
dieser Militärelite gründeten 1985 die Ruandische Patrio-
tische Front (abgekürzt als RPF) mit dem Ziel, die Macht
in Ruanda zu übernehmen und die seit 1973 von Hutu
geführte Regierung unter Juvénal Habyarimana zu stürzen.
Am 2. Oktober 1990 startete die RPF von ihren Basen
im südlichen Uganda eine Invasion Ruandas. Die Einhei-
ten setzten sich aus Exil-Tutsi in Uganda, Burundi und
dem Kongo zusammen. Sie wurden dabei von den USA
ausgerüstet und unterstützt und konnten ressourcenmä-
ßig auf die Armee Ugandas zugreifen. Anfangs war die
RPF gegenüber der Regierungsarmee FAR
(Forces Armées
Rwandaises)
erfolgreich, verlor aber im Kampf ihren
Anführer. Langfristig hatte sie zudem der bedeutend bes-
seren militärischen Ausstattung der FAR, die wiederum
von der französischen Armee mit Truppen und vor allem
Waffen unterstützt wurden, nichts entgegenzusetzen.
Wer heute am Tor zum Akagera Nationalpark eine
kurze Einweisung mit Verhaltensvorschriften erhält, damit
die faszinierende Safari zu Wasserbüffeln, Elefanten und
Hippos gefahrlos verläuft, wird auch an diese Geschichte
erinnert. Denn in das Gebiet des ruandisch-tansanischen
Parks hatten sich sowohl die Rebellen der RPF als auch
viele binnengeflüchtete Tutsi zurückgezogen. Nach einer
militärischen Ausbildung in den USA restrukturierte
der damalige Major Paul Kagame die Truppen, rekru-
tierte neue Kämpfer, vervierfachte die Truppenstärke
von anfangs 5.000 und begann mit einem Guerillakrieg
im Norden Ruandas. Diese Taktik war erfolgreich und
führte zur Waffenruhe von Arusha am 13. Juli 1992. Die
Verhandlungen führten zu keinem Ergebnis, sondern
vielmehr zur Radikalisierung der Positionen auf beiden
Seiten. Als es Berichte über Massaker an Tutsis gab, star-
tete die RPF am 8. Februar 1993 eine große Offensive,
überrannte die Regierungstruppen und rückte Richtung
Kigali vor. Dieser erfolgreiche Vorstoß alarmierte die fran-
zösische Regierung, welche lange Zeit das Habyarimana-
Regime unterstützt hatte. Paris schickte umgehend einige
hundert Mann Verstärkung sowie Munition für die FAR.
Diese französische Verstärkung bewog die Rebellen unter
Kagame am 20. Februar, einen Waffenstillstand anzubie-
ten. Allerdings hatte sich die Situation nur oberflächlich
beruhigt. Es war nur eine Frage der Zeit, wann der Kon-
flikt wieder aufflammen würde.
Der machtpolitische Konflikt, der sich zwischen einfluss-
reichen Interessensgruppen der Hutu undTutsi seit der Revo-
lution und der Unabhängigkeit Ruandas verschärfte, hat die
Grenzen des kleinen Binnenstaates früh überschritten – Bin-
nenmigration und Machtverschiebungen destabilisierten das
gesamte Gebiet im sogenannten „Afrika der großen Seen“.
Ein ganz wesentlicher Aspekt des sich zuspitzenden,
vordergründig als „ethnisch“ postulierten Konflikts, war
sozio-ökonomischer Natur
.
Ruanda war und ist bis heute
eines der dichtbesiedelsten Länder der Welt. Heute leben
dort 432 Personen pro Quadratkilometer. Zum Vergleich
dazu: In Bayern leben 178, in Deutschland 226 Einwoh-
nern/km²; es gibt Landkreise, beispielsweise in Schleswig-
Holstein oder Brandenburg, mit 3 bis 40 Einwohnern/
km². Die Bevölkerungsdichte in Ruanda lag 1990 bei über
700 Einwohnern/km², in diesen Jahren vor dem Genozid
wuchs die Bevölkerung jährlich um drei Prozent. Dabei
handelt es sich bei Ruanda um einen kleinen Binnenstaat,
umgeben von Burundi, der Demokratischen Republik
Kongo, Uganda und Tansania, ohne jegliche Möglich-
keit zu expandieren. Das Potential der Landwirtschaft ist
daher begrenzt. Spätestens ab den 1980er Jahren konnte
der Anbau nicht mehr intensiviert und entsprechend die
Versorgung nicht mehr verbessert werden. Jeder Ernteaus-
fall führte zu Not und Verteilungskämpfen.
Vorgeschichte (und Gründe) eines Genozids –
Erklärungsversuche
Trotz aller Beschäftigung mit den verschiedenen Erklä-
rungslinien bleibt vieles unverständlich, wenn man heute
in den Gedenkstätten nicht nur eindrückliche Doku-
mente der Entmenschlichung, sondern eben auch die
menschlichen Überreste eines grauenvollen Massakers so
deutlich vor Augen hat. Denn es mischen sich ganz archa-
Die Grundversorgung, wie beispielsweise die Versorgung mit frischen Wasser,
hat sich in Ruanda immens verbessert.