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„With human beings you never know“

Einsichten und Perspektiven 3 | 16

Gouverneure der einzelnen Distrikte des Landes unterzeich-

net einen

Imihigo

-Vertrag, das heißt eine Zielvereinbarung

darüber, was der Distrikt in dem kommenden Jahr erreichen

soll. Die Gouverneure wiederum vereinbaren Entwicklungs-

ziele mit den Regional- und Kommunalvertretern und diese

sogar mit den Haushaltsvorständen, also den Familien.

Und die Ruander haben es mit dieser Effizienz und

demWillen, den Anschluss an die „mittleren entwickelten

Länder der Welt“ zu schaffen weit gebracht in den letz-

ten Jahren, was ihnen auch den Spitznamen der „Preußen

Afrikas“ eingebracht hat. Infrastruktur und Verwaltung

wurden in vielen Bereichen modernisiert. So baute man

beispielsweise eine flächendeckende Gesundheitsversor-

gung auf, 91 Prozent der Ruander haben mittlerweile eine

Krankenversicherung. Auch das Schulsystem ist bedeu-

tend besser als in vielen subsaharischen Ländern. Eine

besondere Herausforderung, denn 60 Prozent der Ruan-

der sind jünger als 25. Das heißt, dass jedes Jahr 250.000

junge Menschen auf den Arbeitsmarkt und in den Fort-

bildungsbereich drängen in einem Land, in dem weiterhin

80 Prozent in der Eigenerwerbslandwirtschaft tätig sind.

Die Wirtschaft ist in den letzten Jahren um sechs bis

acht Prozent gewachsen. Zwar liegt der Anteil der Men-

schen, die in absoluter Armut leben und mit weniger als

einem Dollar pro Tag auskommen müssen, noch bei 45

Prozent, aber diese Quote ist in den letzten fünf Jahren um

mehr als 10 Prozent gesunken. Ebenso wurden die Mill-

enniumsentwicklungsziele (Verminderung der Armut,

Verbesserung der Grundversorgung im Bereich Medizin,

Bildung, Gleichberechtigung) in Ruanda bedeutend bes-

ser erreicht als in den meisten afrikanischen Staaten.

Ebenfalls überraschend im Vergleich zu vielen anderen

afrikanischen Staaten ist die Tatsache, dass das Wachs-

tum der gesamten Gesellschaft zugutekommt und nicht

(nur) korrupten Eliten. Auf dem Anti-Korruptionsindex

von

Transparency International

ist das Land von Platz 120

auf Platz 44 hochgeklettert. Auch die Weltbank lobt die

rasanten Entwicklungen.

25

Beim Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern

der St. Peter Igehozo Schule in Nyanza ist der Wunsch der

Zukunftsgestaltung und damit der Entwicklung im eige-

nen Land deutlich zu spüren. Im Rahmen einer Schulpart-

nerschaft mit der Bismarckschule in Nürnberg bereitet sich

25 So hat die Weltbank deutlich gemacht, dass der Zugang zu Wirtschaftsak-

tivitäten und damit die Förderung liberaler Wirtschaftsstrukturen in Ru-

anda sogar besser ist als in manchen Ländern Europas: Im

„Ease of Doing

Business Index“

wurde Ruanda von Platz 132 auf Platz 32 hochgestuft,

vgl.

http://www.doingbusiness.org/rankings

sowie allgemeinhttp://www.

worldbank.org

[Stand: 19.09.2016].

eine kleine Gruppe derzeit auf einen Besuch in Franken

vor. Dabei interessieren sich die 17-jährige Ange Benitha

Umuhoza und der 16-jährige Collins Mwine vor allem

für unseren Lebensstil, aber auch dafür, wie die Schüler in

Deutschland sich in der Schule organisieren, wie sie ihre

Freizeit gestalten – da wollen sie von uns lernen. Die ande-

ren Verbindungslinien nach Nürnberg sehen sie verständ-

licherweise nicht: die Vergleiche der Ausgrenzung durch

die Nürnberger Rassegesetze, aber auch die „Nürnberger

Prinzipien“, die von Nürnberg nach Den Haag führten.

26

Auch die Bedeutung des Genozid für die weitere

Zukunft Ruandas schätzen die beiden Schüler unter-

schiedlich ein. Während Ange das Weiterwirken sieht,

will Collins keine Bedeutung erkennen. Damit spiegelt

sich aber für uns als Besucher eine Erkenntnis der Reise

wider, die uns weiter beschäftigen wird. Im Spannungs-

feld von Verdrängung und Erinnerung ist die Versuchung

immer groß, sich allein aus pragmatischen Gründen für

das Verdrängen zu entscheiden. Und im Spannungsfeld

von Sicherheit und Freiheit ist nach den Erfahrungen des

Genozids eine große Mehrheit gerne bereit, auf Freiheit zu

verzichten, wenn Sicherheit gewährleistet wird.

Ein zweifacher Blick – das Land der tausend Hügel

Zum Abschluss der Tagung schildert der Jesuit Jean Bap-

tiste Ganza eindrücklich die verschiedenen Sichtweisen

auf Ruanda. Er schildert den wundervollen Ausblick auf

die Hügellandschaft in der Nähe von Nyanza, wenn man

auf der Straße von Kigali Richtung Süden nach Nyamata

unterwegs ist. Das Auge sieht dort das satte Grün vonWie-

sen und Feldern zwischen den Hügeln, die arbeitsamen,

freundlichen Menschen und den majestätisch dahinflie-

ßenden

Nyabarongo

-Fluss. Das ist das Ruanda, das wir als

Kinder kannten, so sagt er, und das die nächste Genera-

tion hoffentlich als ihr Ruanda kennen lernen wird. Heute

sehen viele Menschen dort aber etwas anderes: Die Zeit-

zeugen des Genozids, eine ganze Generation dieses Lan-

des, sehen vor ihrem geistigen Auge einen Fluss voller Lei-

chen, die ohne Unterlass vorbeitreiben – sie sehen ein Bild

der Zerstörung, des Mordens und der Unmenschlichkeit.

Es sind zwei Bilder, so resümiert der Jesuit, die nebenein-

ander stehen. Es wird noch einige Zeit dauern, bis das eine

Bild dem anderen weicht.

26 So wurde zum ersten Mal seit den Nürnberger Prozessen am 23.10.2000

Anklage gegen Journalisten wegen Völkermords, Anstachelung zum Völker-

mord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor einem internationalen

Strafgerichtshof erhoben. Im Dezember 2003 werden die Gründer der Radio­

station RTLM und der Zeitschrift „Kangura“ vom ICTR, dem Internationalen

UN-Strafgerichtshof für Ruanda, zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt.