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„With human beings you never know“

Einsichten und Perspektiven 3 | 16

ische Momente (schließlich wurde dieser Genozid wirk-

lich „in Handarbeit“ mit der Machete durchgeführt) mit

modernen Formen der Propaganda und einer zeitgemä-

ßen Organisationsstruktur.

Wer heute vom

Kigali Memorial Center

zum Stadt-

zentrum fährt, der kommt an jenem Gebäude vorbei, in

dem sich RTLM befand – ein ganz wesentlicher Schlüssel

zum insgesamt so schwierig erschließbaren Geschehen des

Mordens in Ruanda. RTLM steht für

„Radio-Télévision

Libre des Mille Collines“

(„Freies Radio und Fernsehen der

der tausend Hügel

) Umgangssprachlich bezeichnete man

RTLM als

„Hate Radio“

(dt. „Hass-Radio“).

Der Hörfunksender wurde bewusst als Sprachrohr und

Instrument der extremistischen Bewegung

„Hutu-Power“

gegründet. Er sollte die Eliminierung und damit die Vertrei-

bung und Ermordung der Tutsi vorbereiten und begleiten. In

deutscher Sprache liegt eine leicht zugängliche und sehr ein-

drückliche Dokumentation des Regisseurs und Autors Milo

Rau mit seinem schweizerisch-deutschen Institut IIPM vor.

9

Milo Rau zeichnet nach, mit welch unfassbarem Zynis-

mus der populäre Sender den Völkermord über Monate

hinweg wie eine Werbekampagne vorbereite. Das zentrale

Kommunikationsmediummischte beliebte Pop-Musik und

packende Sportreportagen mit politischen Pamphleten und

an Verachtung nicht zu überbietenden Mordaufrufen. „Die

Grooves“ – so Milo Rau auf seiner Homepage zusammen-

fassend – „der neuesten kongolesischen Bands und aggres-

sivste Rassenkunde vereinten sich hier auf wenigen Qua-

dratmetern zu einem düsteren Laboratorium rassistischer

Ideologie. […] Hätte man ein einfaches und wirkungsvolles

Ziel gesucht, um den Genozid in Ruanda zu verhindern,

schrieb der US-amerikanische Journalist Philip Gourevitch,

wäre der Radiosender RTLM ein guter Anfang gewesen.“

Während des Massakers wurden über das Radio die einzel-

nen Morde koordiniert und konkrete Weisungen an eine

weitgehend analphabetische und obrigkeitshörige Bevölke-

rung durchgegeben – etwa wo größere Gruppen von Tutsi

zu finden und abzuschlachten seien.

10

9 Die Dokumentation, erhältlich über die Bundeszentrale für politische

Bildung, ist als vertiefende Auseinandersetzung sehr zu empfehlen, au-

ßerdem die Website des Autors. Milo Rau: Hate Radio. Materialien,

Dokumente, Theorie, Bonn 2014 (Lizenzausgabe für Bundeszentrale für

politische Bildung, Originalausgabe: Verbrecher Verlag Berlin 2014). Das

IIPM – International Institute of Political Murder wurde von Milo Rau im

Jahr 2007 gegründet zur Produktion seiner Theaterinszenierungen, vgl.

www.international-institute.de

.

10 So wurde beispielsweise stets von „Kakerlaken“ gesprochen, die es aus-

zumerzen galt. Es wurde dazu aufgerufen, die Gräber der Tutsi ganz zu

füllen, das Ungeziefer müsse eliminiert werden, da es sonst das Land ver-

wüste …, in: Rau (wie Anm. 9), S. 161ff.

Zusammenfassend hat Lennart Laberenz betont, dass der

Genozid nicht denkbar gewesen wäre ohne die Propaganda-

leistung des Radios.

11

Grundlage und Voraussetzung waren

allerdings wie bei allen vergleichbaren Massenmorden der

Moderne die staatliche Bürokratie, Geheimdienste und die

Armee. Als Beschleuniger wirkten in Ruanda zudem Kon-

flikte um die Landverteilung, Versorgungsengpässe und

Nachbarschaftsstreitigkeiten. Dabei sei Folgendes beson-

ders zu berücksichtigen, so Laberenz: „Die ruandische

Gesellschaft ist traditionell streng hierarchisch organisiert

und sehr eng verknüpft: Von Hügel zu Hügel kannte man

sich, kontrollierte man sich. Nachbarn neideten sich, was

sich Nachbarn eben neiden: Land, Einkommen, Ernte.“

12

Milo Rau versuchte in einem Interview die Erklärungen

für einen Massenmord zu bündeln: „Grundsätzlich kann

man drei Faktoren nennen, die dazu führen, dass ein Geno-

zid stattfindet, das heißt, nicht der Spleen einer kleinen

Gruppe von Extremisten bleibt, sondern vergesellschaftet

wird. Erstens müssen Dinge, die vorher komplett verboten

waren, plötzlich als ganz normal gelten, Rede- und Denk-

verbote müssen nachhaltig gebrochen werden. Zweitens

muss es von offizieller Seite den klaren und unmissverständ-

lichen Befehl geben, entsprechend zu handeln, und dazu

gehört auch die Zusicherung von Straffreiheit. Und drit-

tens muss ein möglichst großer Teil der Bevölkerung einen

Vorteil aus den Vertreibungen und Morden ziehen können.

Der erste Schritt ist sicher der langwierigste: Gewisse Ste-

reotype müssen im öffentlichen Raum immer wieder wie-

derholt werden, es muss ein ‚Wir gegen sie‘-Weltbild fest im

gesellschaftlichen Diskurs verankert werden.“

13

In einer vergleichenden Studie unter dem Titel „Säu-

bern und Vernichten“ – den Holocaust, den Genozid in

Ruanda und den Völkermord im ehemaligen Jugoslawien

einbeziehend – hat Jacques Sémelin einen sozialpsycho-

logischen Dreisatz beschrieben: Am Anfang steht erstens

die Konstruktion und Verdichtung einer abgrenzenden

Identität und damit die Verabsolutierung des Anders-

seins, des Fremden, der schließlich zum Feind wird. Aus

dieser Abgrenzung entsteht zweitens die Notwendigkeit,

das eigene, konstruierte „Wir“ rein zu halten, es gegen-

über dem Anderen zu verteidigen. Die oftmals von einer

kleinen Gruppe provozierte Angst vor den Anderen wird

zum Hass und ein Sicherheitsdilemma wird beschrieben,

11 Lennart Laberenz: Der ruandische Genozid 1994, in Rau (wie Anm. 9),

S. 31–43,

12 Laberenz (wie Anm. 11), S. 35.

13 Rau (wie Anm. 9), Seite 20.