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Kennzeichnend für das Erleben dieser Jugendlichen

war die „Fahrt“. Bei diesen mehrtägigen oder auch

mehrwöchigen Wanderungen legten die Jugend-

lichen Wert auf eine schlichte Lebensweise. Sie führ-

ten nur das Nötigste mit sich. Eine gemeinsame Kas-

se für die Gruppe genügte, in einem großen Horden-

topf wurden die mitgebrachten Vorräte „abgekocht“.

Abends schlug man sich beim Bauern in die Scheune

oder legte sich unter die aus einfachen Planen zu-

sammengeknüpften Zelte. Anstatt erzwungenerma-

ßen mit Latein, beschäftigten sich die aus den Städ-

ten geflohenen Jugendlichen nun freiwillig mit Na-

tur- und Heimatkunde, sangen Volks-, Wander- und

Studentenlieder und pflegten Tanz und Laienspiel.

Der Wald als Klassenzimmer – die Gruppe als Lehrer

Wandervögel bezeichneten ihr Tun als wahre „Lebensschule“: Auf Fahrt war nicht nur der ästheti-

sche Reiz der Landschaft wichtig, sondern auch die selbst gewählte, ungewöhnliche Lebenslage.

Die primitiven Lebensumstände machten es notwendig sich zu bewähren und forderten die Schüler

zur Selbsterziehung und zur Erprobung der eigenen Fähigkeiten auf. Die kleine Anzahl von Per-

sonen in der Fahrtengruppe schuf eine persönliche Unmittelbarkeit, in der jeder eigene Beiträge zum

Leben der Gemeinschaft unmittelbar einbringen konnte. In Verbindung mit den einfachen Lebens-

bedingungen entstand so eine besondere Art des Miteinander-Seins, geprägt von Verantwortlich-

keit und Wahrhaftigkeit.

So erschloss sich die junge Generation eine eigeneWelt und fühlte, das verloren geglaubte ursprüng-

liche Leben wiederzugewinnen.

Die Jugendbewegung wirkt auf die Schulen zurück

Viele reformpädagogisch gesonnene Lehrer-Persönlichkeiten der 1920er Jahre entstammten selbst

der Jugendbewegung oder standen doch wenigstens in engem Kontakt zu ihr. Mit ihnen gelangten

deren Haltungen und Lebensweisen in Schulen und bildungspolitische Institutionen:

Das Unterrichtsgeschehen wurde dadurch lockerer, die Schüler erhielten Mitwirkungsrechte und

die Klassen entwickelten mehr Gemeinschaftsgefühl. Feste, Feiern und musische Aktivitäten, wie

sie in der Jugendbewegung üblich waren, stärkten den Gruppenzusammenhalt. Der Heimatgedan-

ke hielt Einzug an den Schulen, ebenso die Gesundheitserziehung sowie ungezwungene, natürliche

Leibesübungen – und natürlich das Schulwandern. Ebenso erhielten kreative Tätigkeiten stärkere

Bedeutung: Musik und Darstellendes Spiel wurden nun auch in Schulen gepflegt.

Auch heute noch gibt es Wandervogelgruppen und gelegentlich berichten Eltern der Wandervogel-

Jungen von dem Phänomen, dass der Sohn, zurück von Fahrt, darum bittet, ein Gericht zubereiten

zu dürfen, das er vorher nicht einmal angerührt hätte. Gefragt nach dem Grund des Gesinnungs-

wandels freut sich der Bengel und die Augen beginnen zu leuchten: „…weil es das auf Fahrt gab!“

Zum Weiterlesen

Als die Bünde der Jugendbewegung in der NS-Zeit verboten waren, wurden bestimmte Lieder zum Erken-

nungszeichen für die Jugendlichen untereinander und zugleich zum Sinnbild des Widerstands. Solche Lieder

hat eine Pfadfindergruppe neu aufgenommen und die bewegenden, historischen Hintergründe in einem Be-

gleitbuch erläutert.

Die Aufnahmen sind unter dem Titel „Gegen den Strom – Lieder aus demWiderstand der Bündischen Jugend

gegen den Nationalsozialismus“ beim Bündischen Audio erhältlich

(www.buendisches-audio.de

)

.

Stiften von Gemeinschaft: Fahrtengruppe (1912)