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aviso 1 | 2014
DER ZAHN DER ZEIT
Colloquium
Gefühle und Gegebenheiten auf Abstand zu bringen. Sie ermöglich-
ten Unterscheidungen, integrierten das Unterschiedene aber zugleich
auch wieder, indem sie es in Beziehung setzten. So sorgten Übergänge
zwischen Hier und Dort, Oben und Unten, Anfängen und Abschlüs-
sen, denen erneute Anfänge folgten, für relativ stabile gesellschaftliche
und soziale Verhältnisse. Eine ähnliche Funktion haben sie auch in der
Musik. Intervalle, Pausen, Stille, allesamt Leerstellen, hörbare Leer-
stellen, bringen die Töne dort erst zumKlingen. Auch Architekten und
Immobilienhändler wissen um die Bedeutsamkeit des »Dazwischen«,
dem sie den Namen »Passagen« geben. Bauingenieure und Heim-
werker sprechen in diesem Zusammenhang von »Dehnungsfugen«,
und Handsatzdrucker nennen in überraschender Gemeinsamkeit mit
Chirurgen ihre Zwischenräume »Spatium«. Wie das »Dazwischen«
auch immer genannt wird, in welchemKostüm es jeweils daherkommt,
stets sorgt es für Abstand und schafft zugleich Anschlüsse, Anschlüsse
an das, was es auf Abstand bringt. Übergänge stellen aus Differenzen
und durch Differenzen Zusammenhänge her.
Ohne Intervalle, ohne
Pausen ist die Musik nur Lärm, ohne Dehnungsfuge
kein Haus, keine Brücke stabil, ohne Spatium das meiste unleserlich,
und ohne Mozarts 23 unterschiedliche Tempo-Variationen im Zwi-
schenreich von langsam und schnell wäre die Welt erheblich eintöniger.
Das Leben kennt mehr unterschiedliche Zwischenzeiten als der Regen
bogen Farben. Wir nennen sie nur nicht immer so. Mal sprechen wir
von Pause, mal von Warten, von Intervall, Transit, Stille und ein ander
mal von Zeiten des Übergangs. Sie alle geleiten und begleiten die Sub-
jekte, aber auch die sozialen Gemeinschaften, wie Familien, Schulklas-
sen und Vereine, von einem zum anderen, von dem, was war, zu dem,
was kommt, vom Hier zum Dort, und wieder zurück. Sie versetzen
die Menschen in die Lage, zwischen Vergangenem und Zukünftigem,
Diesseits und Jenseits, Altem und Neuem unterscheiden zu können.
Räume und Zeiten des »Dazwischen« geben demAlltag einen Rhythmus.
Sie gliedern die Zeit, organisieren und ordnen Zeiterfahrungen, setzen
Schlusspunkte, markieren Anfänge und schaffen so kreative Spielräume.
Das ist ihre Aufgabe, darin liegt ihr Sinn, und das macht ihre kulturelle
Produktivität aus. Selbst dort, wo der Nutzen des »Dazwischen« nicht
offensichtlich ist, ist es nicht sinnlos. Der portugiesische Schriftsteller
Fernando Pessoa verteidigt im »Buch der Unruhe« seine Nutzlosig-
keit: »Das Nutzlose und das Belanglose eröffnen in unseremwirklichen
Leben Zwischenräume einer demütigen Statik. … Beklagenswert der-
jenige, der die Wichtigkeit solcher Dinge nicht kennt«.
Angriffe auf das Dazwischen
Die in jüngster Zeit mit der Verbreitung und dem flächendeckenden
Einsatz der neuen Technologien einhergehende Beschleunigung unse-
rer Lebensverhältnisse, in erster Linie trifft dies auf die medialen und
kommunikativen Verkehrsformen zu, setzt die Übergänge, die Zwi-
schenräume und Zwischenzeiten unter Druck. Pausen, Intervalle, Deh-
nungsfugen werden zumOpfer von Aktivitäten der Rationalisierung und
von Anstrengungen zur Effizienzsteigerung. Die Leitformel dafür heißt
»Verdichtung«, imDetail: Verdichtung der Bebauung, Verdichtung des
Termin- und des Aktionsplans, Verdichtung der Zugfolge, darüber hin-
aus noch Erlebnisverdichtung, Programmverdichtung, Wohnraumver-
dichtung, Arbeitsverdichtung usw. Alles Aktivitäten und Initiativen zur
Komprimierung, die auf Kosten des »Dazwischen« gehen.
Im Internet hat
das auf infinite Zeitverkürzung und
Zeitverdichtung zielende Prinzip der wirtschaftli-
chen Rationalität sein ideales Medium gefunden.
Das World Wide Web kennt weder Anfänge noch
Abschlüsse, kennt keine Übergänge und folglich
auch keinenMittelpunkt. Das Netz perforiert, ver-
flüssigt und eliminiert einen Großteil aller konven-
tionellen Zeitarrangements. Dazu zählen vor allem
die Übergänge. Verloren geht zum Beispiel die
Orientierungsmarken setzende, rituell und tradi-
tionell gefestigte Alltagskultur des Anfangens und
des Beendens. Ersetzt wird sie vom übergangslosen
Ein- und Ausschalten.
Lückenloses Glotzen
Das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) hat eben
das zu seinem Programm gemacht. Zwischenzeiten
und Zwischenräumen hält es nach eigener Aussage
für überflüssig und macht sich die Warnhinweise
der Londoner Verkehrsbetriebe zu Eigen: »Mind
the gap!« »Lücken sind dazu da, geschlossen zu
werden«, lautete jener suggestive Hinweis, mit
dem das ZDF seine Zuschauer vor inzwischen fast
zwei Jahrzehnten auf die Einführung des Nonstop-
Sendeprogramms vorbereitet hatte. ChristianMor-
genstern hätte einem solchen »Fortschritt« wenig
abgewinnen können. Als die Tage noch dämmri-
ge Ränder hatten und sich die Menschen zeitlich
noch amHimmel und nicht am Fernsehprogramm
orientierten, warnte er bereits 1905 in den »Gal-
genliedern« vor der Lückenlosigkeit.
Der Lattenzaun
Es war einmal ein Lattenzaun,
mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.
Ein Architekt, der dieses sah,
stand eines Abends plötzlich da –
und nahm den Zwischenraum heraus
und baute draus ein großes Haus.
Der Zaun indessen stand ganz dumm,
mit Latten ohne was herum.
Ein Anblick gräßlich und gemein.
Drum zog ihn der Senat auch ein.
Der Architekt jedoch entfloh
nach Afri- od- Ameriko.
vorhergehende Doppelseite
Warten – wie hier
auf die U-Bahn am Münchener Prinzregentenplatz – kann
zum kontemplativen Moment werden.
links
Zwischenräume halten so manche Entdeckung
bereit, sofern wir ihnen Aufmerksamkeit schenken.