|19 |
aviso 1 | 2014
DER ZAHN DER ZEIT
Colloquium
2. Irrtum: Ostdeutsche sind aus kulturellen
Gründen Frühaufsteher
Wer vom Südwesten auf der Autobahn nach Berlin
fährt, wird an der Grenze zu Sachsen-Anhalt mit
dem Slogan »Willkommen im Land der Frühauf-
steher« begrüßt. Der Stolz der Ostdeutschen, die
frühesten Aufsteher der Republik zu sein, ist zwar
berechtigt, dies liegt jedoch nicht an Kultur oder
politischer Vergangenheit, sondern hat biologische
Gründe. Die circadiane Uhr bestimmt unter ande-
rem, wann wir schlafen sollten, was man am bes-
ten an freien Tagen beobachten kann, wenn unser
Schlaf – vor allem unser Aufwachen – nicht durch
Arbeits- oder Schulzeiten diktiert wird.
Die durchschnittlichen Schlafzeiten
an freien Tagen verspäten sich innerhalb der mit-
teleuropäischen Zeitzone von Osten nach Westen
um vier Minuten pro Längengrad, genau so lange,
wie die Sonne braucht, um einen Längengrad zu
durchqueren. Die Mitte der Nacht fällt in Green-
wich exakt auf Mitternacht (allerdings nur während
der Normalzeit). Die Mitteleuropäische Zeitzone
ist der Greenwich-Mean-Time um eine Stunde
voraus; dies entspricht der Sonnenzeit in Prag
oder Frankfurt an der Oder. Die Mitte der Nacht
wird in Budapest nach Lokalzeit bereits um 23:45
Uhr erreicht, inParis umcirca 1:00Uhr und amwest-
lichsten Zipfel Spaniens erst um 1:40 Uhr. Während
der Sommerzeit sind dieseUnterschiede noch größer.
Dementsprechend gehen Franzosen und Spanier
später ins Bett als Westdeutsche und Ungarn frü-
her als Ostdeutsche, aber nicht aus kulturellen,
sondern aus biologischen Gründen.
3. Irrtum: Morgenstund hat Gold im Mund
In unserer Moral sind Frühaufsteher gut und
Spätaufsteher schlecht. Die frühen Lerchen sind
effizient und erfolgreich, die späten Eulen hinge-
gen bestenfalls extrovertierte Künstler oder Intel-
lektuelle, schlimmstenfalls üble Ganoven, verstrickt
in dunkle Machenschaften. Frühtypen gelten oft
auch als langweilig, weil mit ihnen abends nichts
mehr anzufangen ist. Die Verschiedenheit von
Eulen und Lerchen ist den meisten geläufig, sodass
die Bevölkerung oft in diese beiden Gruppen ein-
geteilt wird. Dies ist aber so falsch wie die Eintei-
lung nach Körpergröße in Zwerge und Riesen. Es
ist richtig, dass sich innere Uhren ganz individuell
in den Licht-Dunkel-Rhythmus einbetten – frü-
her oder später – diese Unterschiede verteilen sich
jedoch (wie die Körpergröße) normal in der Bevölkerung, mit weni-
gen extremen Früh- und Spätaufstehern und den meisten Menschen
dazwischen.
Die Individualität dieser
›Chronotypen‹ hat drei Ursachen: Die
Funktion circadianer Uhren hängt von Genen ab, und diese sind bei
jedem von uns etwas anders, so wie wir es von Haarfarbe oder Körper-
größe her kennen. Der zweite Grund liegt an unserem Lichtverhalten,
das sich im Laufe der Industrialisierung drastisch verändert hat. Wäh-
rend unsere Vorfahren tagsüber hellem Sonnenlicht ausgesetzt waren
und nachts nur Kerzenlicht, verbringen wir heute an Werktagen nur
etwa eine Stunde unter freiemHimmel und erhellen unsere Umgebung
nach Sonnenuntergang mit elektrischem Licht. Selbst in Räumen mit
großen Fenstern erhalten wir tagsüber kaum mehr als 400 Lux, wäh-
rend es unter freiemHimmel – je nach Bewölkung – 10000 bis 150000
Lux sind. Menschen, die ohne Elektrizität leben, erhalten von Abend-
bis Morgenrot maximal 4 Lux, während wir uns abends dem Fünf- bis
Zehnfachen aussetzen. Unser Zeitgeber wird daher immer schwächer,
was dazu führt, dass die innere Uhr der meisten Menschen immer spä-
ter wird. Der dritte Grund liegt in unserem Alter (siehe Irrtum 4).
Die moralischen Vorstellungen von Lerchen und Eulen machten früher
durchaus Sinn, da die meisten Arbeiten nur tagsüber durchgeführt wer-
den konnten, gelten heute aber nicht mehr. Dennoch haben wir unsere
Schul- und Arbeitszeiten noch nicht an die zunehmende Spätheit der
Bevölkerung angepasst. Die Kluft zwischen unseren Innentagen und der
sozialen Uhr (wir nennen sie ›sozialen Jetlag‹) wird immer größer. Es
scheint, als lebten wir – vergleichbar mit demReise-Jetlag – an Arbeits-
und freien Tagen in verschiedenen Zeitzonen. Wir entdecken immer
mehr Folgen des sozialen Jetlags. Je größer diese zeitliche Kluft, desto
weniger Schlaf bekommen wir, desto mehr Alkohol und Kaffee konsu-
mieren wir, desto wahrscheinlicher, dass wir rauchen, übergewichtig oder
sogar fettleibig werden, an Diabetes Typ II oder Depressionen leiden.
Diese Folgen haben nur indirekt mit dem eigentlichen Chronotyp zu tun.
Eulen leiden nur dann unter sozialem Jetlag, wenn ihre Arbeitszeiten
nicht mit ihrer zeitlichen Biologie vereinbar sind und Lerchen, wenn sie
unter demDruck der spätenMehrheit nicht früh genug ins Bett kommen.
Morgenstund hat also
längst nicht mehr Gold im Mund. Im
Gegenteil, wer an Arbeitstagen nur mit dem Wecker aufwachen kann
(mittlerweile sind dies 80% der Bevölkerung), hat eine höhere Wahr-
scheinlichkeit, (früher) krank zu werden und kostet somit mehr Geld
als Menschen, die nach ihren Innenzeiten schlafen.
4. Irrtum: Jugendliche müssen nur früher ins Bett gehen,
dann kommen sie auch morgens besser raus
Die meisten Eltern und Lehrer denken, dass Teenager, die den Tag als
Zombies beginnen, nur früher ins Bett gehen müssten, anstatt an ihren
Computern oder Handys zu kleben. Aus Gründen, die wir noch nicht
genau verstehen, verändert sich der Chronotyp mit demAlter. Die innere
Uhr von Kindern ist generell früh dran, wird im Laufe der Pubertät und
Adoleszenz immer später, erreicht zwischen 19 und 21 ihr Maximum im
Spätsein und wird dann für den Rest des Lebens wieder früher. Diese
Altersabhängigkeit existiert in allen Kulturen und Ländern und kann
selbst bei Affen und Nagern nachgewiesen werden. Sie ist offensichtlich
biologisches Programm und nicht pubertäre Disziplinlosigkeit.
links
Müde Schüler im Deutschen Bundestag
in Berlin während einer Regierungserklärung zur Welt-
konferenz zur Zukunft der Städte im Jahr 2000.