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aviso 1 | 2014
DER ZAHN DER ZEIT
Colloquium
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Auf dem Heimweg dämmert‘s – vielleicht
Typisch für das Zeitalter der Industriekultur war das raum-
zeitliche Übergangsphänomen des »Heimwegs«. Der »Heim-
weg« ist ein Dazwischen in doppelter Bedeutung. Er trennt
und verbindet zwei Orte, den des Arbeitsplatzes und den
des Familien- bzw. Privatlebens, und er trennt die Arbeits-
zeit von der Freizeit. Er macht einen Unterschied zwi-
schen beruflicher und privater Tätigkeit und ernennt sie
zum plausiblen Organisationsprinzip. Der Heimweg trennt
unterschiedliche Lebenswelten, verbindet sie jedoch auch mit
den Mitteln eines räumlichen (Entfernung) und zeitlichen
(Dauer) Übergangs. Heimweg, das ist eine vordergründig
nutzlose Zeit, die allein deshalb schon nützlich ist, weil sie
kreativ genutzt wird, zum Lesen, zu einemNickerchen, einer
Unterhaltung, zum Telefonieren.
Einweiteres zeitliches
Dazwischen, das täglich zweimal stattfindet,
ist die Dämmerung. Ihr trauriges Schicksal verdient einen
kleinen Lobgesang, der auch ein kleiner Nachruf ist. Dies
nicht zuletzt, um den gehetzten Menschen unserer Tage an
jene Zeiten zu erinnern, die ihnen die Chance geben, dass es
ihnen »dämmert«.
Nachruf auf die blaue Stunde
Dämmerung, so nennen wir jenes kurze Schattenreich, in dem
es gerade noch hell genug ist zu erkennen, dass es beginnt,
dunkel zu werden; oder, das gilt für die Morgendämmerung,
in der sich unsere Augen langsam an jene Helligkeit gewöh-
nen, die uns, wenn sie übergangslos geschähe, durch Blen-
dung belästigen würde. Die etwa halbstündige Dämmerung
ist ein fließender Übergang zwischen Tag und Nacht, zwi-
schen Helligkeit zur Dunkelheit und zwischen Dunkelheit zu
erneuter Helligkeit. In der von der Zeigerlogik dominierten
bürokratischen Zeitordnung unseres Tagesablaufs spielt die
Dämmerung keine Rolle mehr. Das deshalb, weil der allzeit
funktionsbereite Lichtschalter die natürliche Differenz und
den fließenden Übergang von hell und dunkel abgeschafft
hat. Nur mehr der Kurzschluss zwingt uns elektrifizierte
Zeitgenossen, den Unterschied zwischen Helligkeit und
Dunkelheit mehr oder weniger verblüfft zur Kenntnis zu
nehmen.
Die Dämmerung,das
macht ihre schöpferische Qualität aus, schärft
den Blick in demMoment, in dem er droht, verloren zu gehen.
Ein Effekt der koexistierenden Gegensätze, den sich Thea-
ter und Kino zunutze machen, indem sie das, was sie zeigen,
durch die Verdunklung des Zuschauerraumes heller erschei-
nen lassen. Die absichtsvoll inszenierte dämmrige Stimmung
des Auditoriums erst öffnet den Theater- und Kinobesu-
chern die Augen für die inspirierenden Zwischenreiche von
Spiel undWirklichkeit, Rolle und Person, Verborgenem und
Unverborgenem, Sichtbarem und Unsichtbarem.
Das Nahe wird fern, das Naheliegende fremd und
das Fremde nah und naheliegend.
Die kosmische Dämmerung gehört heute zu den
verloren gegangenen Erfahrungen. Auch literarisch
hat sie ihr Anregungspotenzial weitestgehend ein-
gebüßt. Als Thema ist sie verloren gegangen und
jedes neue Gedicht über sie steht unter Kitsch-
verdacht. Der Aufklärungsimpetus der abendlän-
dischen Kultur und das technikzentrierte Fort-
schritts- und Entwicklungsdenken der westlichen
Zivilisation haben die Rhythmen der Natur und die
kosmischen Zyklen ihrer Orientierungsfunktion
im Prozess des Alltagsgeschehens beraubt. Der
Kampf gegen die Schatten, gegen das Dunkel und
Halbdunkel, ist längst zum profitablen Fortschritts-
programm geworden. Was da als »Fortschritt«
bejubelt und gefeiert wird, schreitet nicht, wie häufig
unterstellt, stetig und gleichmäßig wie die Zeiger
der Uhr auf dem Ziffernblatt voran.
Wo der Möglichkeitssinn wohnt
Ein Resümee im Zeitraffer: Nur im Halbschatten
zeitlicher und räumlicher Zwischenwelten reift die
Erkenntnis, dass das was ist, nicht alles ist. Im »Da-
zwischen« hat der Möglichkeitssinn seinen Erst-
wohnsitz. Dort, wo wir ins Übergängliche kommen,
eröffnen sich neue Möglichkeiten. Der wohl größ-
te Menschenkenner unter den Dichtern, William
Shakespeare, hat im Dazwischen zur Untermiete
gewohnt, als er ankündigte: »I
,
ll teach you diffe-
rences«. Auch Fernando Pessoa ist dort ein- und
ausgegangen: »Ich bin der Zwischenraum zwischen
dem, was ich bin, und dem, was ich nicht bin, zwi-
schen dem, was ich träume, und dem, was das Le-
ben aus mir gemacht hat... Ich bin die Brücke des
Übergangs zwischen dem, was ich nicht habe, und
dem, was ich nicht will«.
Mag sein, dass,
wie der Volksmund es behauptet, der
Teufel imDetail steckt. Trostreicher jedoch ist die
Auskunft des von jeglicher Frömmigkeit weit ent-
fernten argentinischen Schriftstellers Jorge Luis
Borges: »Gott hält sich in den Intervallen versteckt«.
Professor Dr. Karlheinz Geißler
schreibt,
lehrt und lebt in München
).
Mehrere Buchpublikationen zum Thema »Zeit«.
Zum Weiterlesen:
Karlheinz Geißler: Enthetzt Euch! Weniger Tempo –
mehr Zeit. S. Hirzel Verlag, Stuttgart 2012.
Karlheinz Geißler: Alles hat seine Zeit, nur ich hab
keine. Oekom Verlag, München 2011.
Karlheinz Geißler: Lob der Pause.
Warum unproduktive Zeiten ein Gewinn sind.
Oekom Verlag München 2010.
links
Den Münchnern dämmert’s –
in diesem Fall sehr schön.
Foto: Dieter Ludorf
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