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aviso 1 | 2014
DER ZAHN DER ZEIT
Colloquium
Der Unterschied zwischen
den extrems-
ten Lerchen und Eulen beträgt heutzutage bis zu
zwölf Stunden. Wenn man Stadtmenschen aufs
Land verfrachtet, wo sie tags ausschließlich drau-
ßen sind und nachts keine Lichtverschmutzung er-
leben, rücken Lerchen und Eulen näher zusammen
und man schläft früher. Die Weisheit vom gesun-
den Schlaf vor Mitternacht mag daher für unsere
Vorfahren durchaus richtig gewesen sein, heute
gilt sie allerdings nur noch für wenige Frühtypen,
die sich nicht in der Pubertät befinden und auf
dem Land am östlichen Rand einer Zeitzone leben.
6. Irrtum: Es gibt Frühaufsteher und
Langschläfer
Dieses Wortpaar ähnelt den berühmten Äpfeln und
Birnen, denn ›früh‹ gehört zu ›spät‹ und ›lang‹
zu ›kurz‹. Schlafdauer und -zeitpunkt sind zwei
unabhängige Eigenschaften, die sich beide in der
Bevölkerung glockenförmig verteilen. Unter den
frühen Chronotypen gibt es genauso viele Lang-
und Kurzschläfer wie unter den Spättypen und
unter den Kurzschläfern ebenso viele Früh- und
Spättypen wie unter den Langschläfern. Daher
ist die Vorstellung dass Menschen, die später auf-
stehen, länger schlafen, falsch. Sie geht davon aus,
dass alle Menschen zu ähnlichen Zeiten einschla-
fen, was unserer Erfahrung widerspricht.
Fast ein Viertel
der Bevölkerung schläft im
Durchschnitt ungefähr acht Stunden; nahezu 60 %
brauchen zwischen 7,5 und 8,5 Stunden. Menschen,
die auf Dauer mit weniger als fünf Stunden auskom-
men oder mehr als zehn benötigen, sind äußerst
selten. Wie beimChronotyp hängt die Schlafdauer
vom Alter ab. Kinder schlafen am längsten und
ältere Menschen am wenigsten. Betrachtet man
jedoch die Schlafdauer getrennt an Arbeits- und
freien Tagen, ergibt sich ein erschreckendes Bild.
Vom 16. bis zum 65. Lebensjahr kommen die meis-
tenMenschen an Arbeitstagen auf nicht viel mehr
als sieben Stunden, während Kinder und Jugend
liche an freien Tagen bis zu zehn undMenschen um
die 50 knapp acht Stunden schlafen. Auf Grund
der späten inneren Uhren kommt auch das Signal
zum Einschlafen spät, sodass wir bis zumWecker-
Klingeln nicht lange genug geschlafen haben; dieses
Schlafdefizit holen wir an freien Tagen nach (be-
sonders späte Chronotypen müssen oft die Hälfte
ihrer freien Tage verschlafen). Die meisten von
uns sind also beides, ›Frühaufsteher‹ und ›Lang-
schläfer‹, ersteres an Arbeitstagen und letzteres
an freien Tagen. Der Eindruck, dass ältere Men-
schen weniger Schlaf brauchen, ist über die gesamte
Lebensspanne zwar richtig, nur zeigen Statistiken, dass die Schlafdauer
im Ruhestand wieder länger wird, da einem die Werktage nicht mehr
so viel Schlaf rauben.
7. Irrtum: Man kann seine innere Uhr vor dem Einschlafen stellen
Manche Menschen können sich abends vornehmen, zu einer bestimm-
ten Zeit aufzuwachen. Dieser ›innere Wecker‹ funktioniert am besten,
wenn er immer zur gleichen Zeit ›klingeln‹ soll. Viele Menschen, die
werktags den (äußeren) Wecker auf die gleiche Zeit stellen, wachen an
Arbeitstagen schon vor dem Klingeln auf oder sind an freien Tagen zu
dieser Zeit kurz wach, bevor sie erleichtert wieder einschlafen. Geübte
können den ›innerenWecker‹ auch auf jede beliebige Zeit stellen. Obwohl
dieser Wecker die innere Uhr benutzt, ist es ein eigenständiges System,
das wahrscheinlich mit dem Programm der Zeit-Raum-Assoziation
zusammenhängt. Wichtige Informationen über die Umwelt haben sowohl
zeitliche wie räumliche Eigenschaften. Zu bestimmten Zeiten sind an
bestimmten Orten Futterquellen verfügbar oder Feinde anwesend. Um
diese Raum-Zeit-Informationen verarbeiten zu können, werden sie in
einer ›Kopfuhr‹ gespeichert. Die Zeit-Raum-Assoziation wurde experi-
mentell untersucht, indemman Versuchstieren Nahrung zu bestimmten
Tageszeiten an verschiedenen Stellen (etwa eines Versuchslabyrinths)
anbot. Die Tiere lernten diese Aufgaben schnell und suchten ihr Futter
zu verschiedenen Tages- oder Nachtzeiten an den jeweils voraussagbaren
Stellen. Es liegt daher nahe, dass sich unsere Fähigkeit, einen ›inneren
Wecker‹ zu stellen, dieses Programms bedient. Das heißt jedoch nicht,
dass man seine innere Uhr neu stellt. Im Gegenteil, wie beim echten
Wecker ist es wichtig, dass die Uhrzeiten unverändert weiterlaufen und
man nur eine bestimmte Zeit ›markiert‹, zu der man geweckt werden soll.
Unsere innere Uhr
ist ein fundamentales biologisches System, an
dem viele spezielle Gene beteiligt sind, die in praktisch jeder Zelle unse-
res Körpers einen biochemischen Innentag generieren. Diese Zelluhren
werden über eine Zentrale im Gehirn koordiniert und mit dem Licht-
Dunkel-Wechsel synchronisiert. Praktisch jede Körperfunktion imTages-
ablauf wird von der inneren Uhr beeinflusst. Für diese ist die (sehr indi-
viduelle) Innenzeit relevanter ist als die Zeit, die wir von Uhrenblättern
erfahren. Da sich diese Innenzeit unter modernen Lebensbedingungen
kontinuierlich verändert, müssen wir auch unsere gesellschaftlichen Zei-
ten hinterfragen. Anderenfalls schaffen wir übermüdete, überforderte
und übergewichtige Bürger, die der Krankenkostenexplosion zuarbeiten.
Professor Dr. Till Roenneberg
ist Chronobiologe am Institut für
Medizinische Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München
und Präsident der European Biological Rhythms Society (EBRS).
Weitere Informationen
Test der Ludwig-Maximilians-Universität: Welcher Chronotyp sind Sie?
rechts
Sachsen-Anhalt: Land der Frühaufsteher