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aviso 1 | 2014
DER ZAHN DER ZEIT
Colloquium
Die Vorstellung, dass wir immer dann schlafen
können, wenn wir müde sind und dies auch noch
mit Disziplin steuern können, ist falsch. Die innere
Uhr gibt ganz individuell nach ihren Eigenzeiten
vor, wann wir am besten schlafen. Dummerweise
erschwert sie aber das Einschlafen einige Stunden,
bevor das innere Schlaffenster aufgeht, mehr als
zu jeder anderen Tageszeit, auch wenn wir noch
so müde sind.
Wie im Irrtum 1
beschrieben, können wir durch
soziale Signale unser Lichtverhalten ändern und
so die Innenzeit ein wenig verstellen. Dies reicht
jedoch nicht aus, um die Innenzeit eines durch-
schnittlichen Teenagers mit dem Schulanfang zu
synchronisieren – schon gar nicht imWinter, wenn
es morgens noch dunkel ist. Die Nutzung digita-
ler Medien bis spät in die Nacht kann die innere
Uhr durchaus später stellen, was jedoch leicht ver-
hindert werden kann, indemman eine kostenlose
Applikation (f.lux) installiert, die nach Sonnen
untergang die Blauanteile aus den Bildschirmen
entfernt (je blauer das Licht, desto stärker verstellt
es die innere Uhr).
Besonders Jugendliche leiden an Schultagen
unter chronischem Schlafentzug, daher sollten sie
den verlorenen Schlaf nachholen, wann immer sie
können. Sie sollten allerdings nicht in verdunkel-
ten Zimmern schlafen, da dies der inneren Uhr
vorgaukelt, es wäre noch Nacht. Obwohl sehr
wenig Licht durch die geschlossenen (und im Schlaf
meist nach oben gerollten) Augen trifft, reicht es
aus, um dem Gehirn zu vermitteln, dass der Tag
bereits angebrochen ist.
Unter den heutigen
urbanisierten, licht-
schwachen Bedingungen unterrichten wir viele
Jugendliche in der zweiten Hälfte ihrer (Innen-)
Nacht. Versuche haben gezeigt, dass Jugendliche in
der ersten Unterrichtsstunde immer wieder in einenMikroschlaf fallen,
Episoden, in denen sich das Gehirn kurzfristig abmeldet. Holt man sie
zu Schulbeginn ins Schlaflabor, zeigen sie die typischen Anzeichen von
Narkoleptikern und fallen sofort in REM-Schlaf. Dies sind keine idealen
Lernbedingungen – Schlaf ist essentiell, um Erlerntes zu konsolidieren
und das Gehirn auf Neues vorzubereiten. Studien zeigen, dass die
Abi-Note desto schlechter ausfällt, je später die innere Uhr eines Schü-
lers ist, während außerhalb der Schule ein Zusammenhang zwischen
Chronotyp, Leistung und Intelligenz nicht besteht.
5. Irrtum: Der beste Schlaf ist der vor Mitternacht
Viele Volksweisheiten beschäftigen sich mit Schlaf – kein Wunder, er
betrifft ja schließlich ein Drittel unseres Lebens. Dass der beste Schlaf
vor Mitternacht liegt, ist unter den heutigen Lebensbedingungen jedoch
falsch. Es ist richtig, dass die ersten Stunden unseres Schlafs besonders
effektiv darin sind, den Schlafdruck, den wir in unseren Wachphasen
aufbauen, wieder abzubauen, aber Schlaf hat viele Aufgaben – von
Erholung über Immunfunktionen bis zur Informationsverarbeitung,
Gedächtniskonsolidierung und Vorbereitung des Gehirns auf die
neuen Eindrücke des nächsten Tages. Viele dieser Aufgaben werden
auch oder gerade in der zweiten Schlafhälfte bewältigt. Wer zu wenig
schläft, ist erschöpft, krankheitsanfälliger, hat Gedächtnisschwierigkei-
ten und kann weniger leisten.
Wie bereits beschrieben,
ist das das Konstrukt ›Mitter-
nacht‹ nach Lokalzeit meist nicht mehr mit der Mitte der nächtlichen
Dunkelheit identisch, schon gar nicht während der Sommerzeit. Es
ist übrigens entgegen der landläufigen Meinung während der Som-
merzeit nicht länger hell, sondern wir kommen nur früher nach Hause,
da wir laut kollektivem Beschluss eine Stunde früher zur Arbeit gehen
(damit wir das nicht merken, werden unsere Uhren umgestellt). Mit-
ternacht fällt auch nicht mit unserer Schlafmitte zusammen. Ohne
Verpflichtungen schlafen die meisten Menschen in Industrieländern
sogar erst gegen Mitternacht ein und wachen etwa acht Stunden spä-
ter auf (siehe auch Irrtum 6). Die Mitte des Schlafes liegt im Durch-
schnitt um 4:30 Uhr; bei Menschen im Osten einer Zeitzone frü-
her als bei ihren Mitmenschen im Westen, bei Teenagern später als
bei Kindern und Großeltern, und auf dem Land früher als in der
Stadt.
oben links
Häufigkeit verschiedener Chronotypen in der deutschen Bevölkerung. Links: Häufigkeit der unterschiedlichen Schlafzeiten (z. B. »0-8«
heißt, die Person schläft durchschnittlich von 0 Uhr bis 8 Uhr). Rechts: Schlafmangel bzw. -überschuss an Arbeitstagen im Vergleich zu freien Tagen.
oben rechts
Der Chronotyp verändert sich im Lauf des Lebens. Auch das Geschlecht spielt eine Rolle.
© LMU, INSTITUT FÜR MEDIZINISCHE PSYCHOLOGIE, Zentrum für Chronobiologie | Wikipedia Jochen Jansen